Drachenblut
Gedanken zu lesen schien.
Windblüte seufzte. »Sie ist nicht weise geworden.«
Sorka drückte Windblüte schwach die Hand. »Ich bin sicher, dass sie eines Tages Weisheit erlangen wird.«
»Aber nicht durch mich«, meinte Windblüte bekümmert.
»Mâhall, lass uns bitte allein«, bat Sorka. Mâhall warf ihr einen rebellischen Blick zu, doch sie kam seinem Widerspruch zuvor, indem sie hinzufügte: »Ich rufe dich bald wieder ins Zimmer, mein Schatz.«
Widerstrebend entfernte sich Mâhall. Sorka behielt eine Weile die Tür im Auge, um sich zu vergewissern, dass er nicht zurückkehrte. Dann wandte sie sich an Windblüte. »Und nun erzähl mir alles.«
Jahre des vertrauten Umgangs miteinander lieÃen Windblüte erraten, was Sorka am meisten am Herzen lag. »Wir kommen gut voran«, erklärte sie.
Sorka verzog skeptisch den Mund. »Windblüte, ich liege im Sterben, aber ich bin noch klar bei Verstand. Ich habe gehört, dass dein Kurzzeitgedächtnis dich immer mehr im Stich lässt.«
Windblüte gelang es, bei dieser verblüffenden Eröffnung eine neutrale Miene beizubehalten, doch Sorka merkte ihr die Ãberraschung an der Körperhaltung an. Die erste Weyrherrin schmunzelte. »Was geht wirklich vor?«
Windblüte seufzte. »Ich bin besorgt, weil uns nicht genug Zeit blieb, um unser praktisches Wissen â Dinge, die wir durch Erfahrung gelernt haben, und nicht durch theoretische Studien â an die nächste Generation weiterzugeben.«
»Also wird einiges an Erkenntnissen verloren gehen«, kommentierte Sorka. »Das ist schon auf anderen Koloniewelten passiert, und die Menschen haben überlebt.«
Windblüte nickte. »Das stimmt. Aber stets haben die Leute einen hohen Preis dafür gezahlt. Die untergegangenen Kenntnisse mussten irgendwann einmal neu erlernt werden, im Allgemeinen durch Versuch und Irrtum. Nicht nur, dass auf diesen Welten eine Stagnation eintrat, mitunter gab es drastische Rückschritte.«
»Glaubst du, das könnte auch auf Pern passieren?«
»Allerdings. Wir sind besonders anfällig, weil wir im Fieberjahr und bei späteren Epidemien so viele Leute verloren haben.«
Sorka verzog das Gesicht. »Das weià ich, und über dieses Thema haben wir uns schon einmal unterhalten, meine Lady.«
Windblüte schnaubte abfällig, als Sorka sie mit diesem Titel anredete. »Fang du nicht auch noch damit an!«
»Wenn ich so tituliert werde, gebührt es dir erst recht.« Mit der freien Hand strich sie sich betont geziert übers Haar und lächelte. »Offenbar hat man eine hohe Meinung von uns beiden.«
»Das scheint mir auch so.« Windblüte lächelte zurück. »Trotzdem stört es mich, denn es zeigt, dass die Menschen anfangen, ein Kastenbewusstsein zu entwickeln.«
»Verträgt sich das denn mit der Charta?«, sinnierte die alte Weyrherrin.
»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Einerseits kann ich verstehen, warum die jungen Leute dazu übergehen, die veralteten Anredeformen von âºmein Lordâ¹ und âºmeine Ladyâ¹ wieder zu benutzen.«
Sorka winkte ab. »Darüber hatten wir uns schon unterhalten.«
»Ich habe es nicht vergessen«, erwiderte Windblüte. »Trotzdem möchte ich noch einmal darauf zurückkommen, weil ich diese Entwicklung für bedeutsam halte. Die jungen Leute mussten sich von den älteren Kolonisten oftmals regelrecht bevormunden und kontrollieren lassen. Aus dem einfachen Grund, weil wir Ãlteren noch über die Talente verfügen, die man braucht, um zu improvisieren und zu überleben. Und das Leben auf Pern ist nach wie vor gefährlich, wie die Jugendlichen, die sich von den Ãlteren nichts sagen lassen, stets aufs Neue zu spüren bekommen â mitunter kann es ihren Tod bedeuten, wenn sie zu eigenmächtig handeln.«
Sorka entzog Windblüte ihre Hand und bedeutete ihr mit einer schwungvollen Geste, sie möge sich mit ihrem Vortrag beeilen.
»Ich kann mich nicht beeilen, Sorka, denn im Augenblick denke ich laut nach«, gab Windblüte zurück. Sie schaltete eine Pause ein und versuchte, den Faden wiederaufzunehmen.
»In der Zukunft wird es auf Pern eine Art Aristokratie geben, Lords und Ladies, die ganz bestimmte Stellungen in der Gesellschaft bekleiden. Weyrführer, Weyrherrinen, die Männer und
Weitere Kostenlose Bücher