Drachenblut
dass es eine gute Idee wäre, jetzt, wo sie nicht mehr lesen wollte, wie die Wespe hinaus in die Welt zu ziehen, um den warmen Sommertag zu genießen. Seit ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus waren viele Wochen vergangen. Nach Auskunft der Ärzte hatte sich ihr Zustand soweit stabilisiert, dass sie nur noch alle paar Tage zur Behandlung ins Krankenhaus kommen musste. Dennoch war die Krankheit nicht spurlos an dem kleinen Mädchen vorübergegangen. Infolge der regelmäßigen Strahlenbehandlung und der Chemotherapie waren ihr schon bald die Haare ausgefallen. Ein Jammer um die herrliche Pracht, die ihr Haupt geschmückt und um die sie jeder beneidet hatte.
Der Blick in den Spiegel war anfangs nur schwer zu ertragen gewesen. Zu fremd war das Wesen, das dem kleinen Mädchen mit stumpfen Augen entgegenstarrte, ein nackter Körper ohne Seele, nur noch ein Abbild einer Erinnerung, die um so mehr verblasste, je länger sie in den Spiegel schaute. Manchmal fragte sich das kleine Mädchen, ob sie diese Erinnerung wieder beleben könnte, ob sie gesund werden würde, wenn sie einfach den Spiegel zerschlug, der sie mit diesem Anblick verhöhnte. Vielleicht konnte sie so den Bann brechen, der ihren Körper von ihrem Geist entfremdete, und vielleicht konnte sie wieder zu einer Harmonie finden, in der sie mit sich selbst im Reinen war und die ihr das Rüstzeug gab, um im Leben auch künftig gegen alle Unbill der Welt bestehen zu können.
Bis auf weiteres war das kleine Mädchen von der Schule befreit worden. So hatte sie den ganzen Tag Zeit, all diejenigen Dinge zu tun, von denen sie früher während des Unterrichts geträumt hatte. Sie könnte vielleicht hinunter zum Kanal gehen und Blumen ins Wasser werfen. Oder sie könnte in die Stadt gehen, denn dort gab es immer etwas Interessantes zu sehen, eine neue Baustelle oder gar einen Zirkus, der auf dem Marktplatz seine Zelte aufgeschlagen hatte.
Auf jeden Fall wollte das Mädchen ihre Mütze mitnehmen, die ihr der Großvater noch vor seinem Tod geschenkt hatte. Diese unscheinbare Kappe barg nämlich ein Geheimnis, von dem ihr der Großvater nichts erzählt hatte, obwohl er bestimmt darum wusste. Sobald sie die Kappe aufsetzte, wurde nicht nur ihr kahles Haupt verdeckt, sondern sie selbst wurde von einer Sekunde zur anderen unsichtbar. Dann konnte sie von niemandem mehr gesehen werden und es war, als ob sie einfach nicht mehr da wäre. Mit der Kappe wurde sie von den anderen Kindern auf dem Spielplatz nicht beachtet, niemand fragte sie, ob sie mitspielen oder sich zu ihnen gesellen wollte. Wenn sie aber die Mütze abnahm, dann starrten alle her, tuschelten miteinander, zeigten mit ihren Fingern auf sie und machten hinter ihrem Rücken Späße.
Das Merkwürdige an der Sache war aber, dass die Tarnkappe nur bei Menschen funktionierte. Für Maschinen konnte sich das kleine Mädchen nicht unsichtbar machen. Das hatte sie herausgefunden, als sie einmal unachtsam über die Straße gegangen war. Da war ein roter Sportwagen herangebraust gekommen und hätte sie beinahe überfahren. Der Wagen wich aber gerade noch aus, schlug einen Haken um das kleine Mädchen und verschwand hinter der nächsten Biegung, nicht ohne vorher noch frech gehupt zu haben. Und weil die Hupe so lustig klang, schien der Wagen auf das Mädchen nicht einmal böse zu sein.
Das kleine Mädchen nahm also die Mütze vom Kleiderhaken, und bevor sie sich auf den Weg in die Stadt machte, steckte sie noch schnell einen Apfel in die Tasche ihres Kleides, vielleicht fand sie jemanden, mit dem sie die Frucht teilen konnte. Als sie das Haus verlassen hatte, hüpfte sie unbeschwert den Weg entlang und summte sich ein Lied, mit einem sanften Summen, das das einer Bienenkönigin war.
23
Virgil knabberte an seinen Fingernägeln und lief unruhig im Kontrollraum hin und her. Er umkreiste dabei das Servicemobil, das er erst kurz zuvor zu sich gelenkt und wie einen Freund empfangen hatte. Aber daran wollte er sich nur ungern erinnern. Peinlich, peinlich, wie er alter Trottel das Servicemobil liebkost hatte. Zum ersten Mal hoffte Virgil, dass er wirklich der letzte Mensch auf Erden und nicht beobachtet worden war, wie er sich zum Narren gemacht hatte. Er, der rationale, kühle Denker hatte sich der Illusion hingegeben, ein Wesen aus Fleisch und Blut zu umarmen und dabei gar noch Trost zu finden. Nein, das war doch zu abwegig, und mit einem Tritt stieß er das arme Geschöpf achtlos in die
Weitere Kostenlose Bücher