Drachenelfen
Agah’ran kraftlos die Hand.
Tretar, der ihn wachsam beobachtet hatte, war
sofort ganz Ohr. »Ja, Sire?«
»Noch jemand ist mit dem Jungen gekommen. Ein
Mann, sehr ungewöhnlich, dessen Haut sich angeblich blau gefärbt haben soll.«
»Ja, Sire«, antwortete Tretar, der es für
diplomatisch klüger hielt, nicht näher auf das Phänomen einzugehen. »Das
entspricht den Tatsachen.«
»Und? Was hat es mit ihm auf sich?«
»Es besteht kein Grund zur Beunruhigung,
Majestät. Ich hörte munkeln, der Mann wäre einer der Mysteriarchen, deshalb
fragte ich Hauptmann Sang-drax nach ihm, aber nach seiner Auskunft handelt es
sich bei diesem Burschen mit der blauen Haut lediglich um den Leibwächter des
Jungen.«
Agah’ran nickte, ließ sich zurücksinken und
schloß die bemalten Lider. Die Sänfte wurde hinausgetragen, hinter ihr
schwangen die hohen Flügeltüren geräuschlos zu.
Tretar wartete noch einen Moment, zur
Sicherheit, dann entfernte er sich hochzufrieden, um die Verwirklichung seines
Plans in Angriff zu nehmen.
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Kapitel 12
Schloßburg,
Volkaran Archipel,
Mittelreich
König Stephen oblag seinen Regierungsgeschäften
in einer erheblich pragmatischeren Umgebung als Agah’ran. Das Imperanon war ein
architektonisch vielfältiges Konglomerat anmutiger und eleganter Bauten,
geschmückt mit bemalten Erkern, farbenfrohen Mosaiken und gemeißelten Friesen,
überragt von schlanken Türmen und zierlichen Minaretten. König Stephens Residenz
war ein massiger, düsterer Klotz; zinnenbewehrte Ecktürme streckten sich
schroff in einen grauverhangenen Himmel. Man war geneigt, dem alten Sprichwort
zu glauben, daß der Stein das Fleisch bildet.
Die Nächte im Imperanon waren ein Lichtermeer
aus kerzenbestückten Flambeaus und Kandelabern. Auf Volkaran geisterte der
fahle Schein vom Firmament über die Schuppen der Kampfdrachen auf den Zinnen
der Türme. Wachfeuer leuchteten rot in der Dunkelheit, zeigten heimkehrenden
Drachenreitern den Weg und spendeten den Posten Wärme, die unablässig den
Himmel nach Elfenschiffen absuchten.
Die Tatsache, daß seit langem kein Elfenschiff
gewagt hatte, in Volkarans Luftraum einzudringen, tat der Wachsamkeit keinen
Abbruch. In Firstfall, dem Burgflecken am Fuß der Mauern, raunten böse Zungen,
daß Stephen nicht etwa nach Elfenschiffen ausschauen ließ. Nein, er fürchtete
unliebsame Überraschungen aus viel größerer Nähe, von Kiradrift, statt von
Kanadrift. 46
Alfred, der eine Zeitlang bei den Menschen lebte,
ist der Autor folgender Abhandlung, überschrieben Unfähigkeit zu herrschen:
Die Elfen von Arianus hätten nie die
Vorherrschaft errungen, wären die Menschen willens gewesen, sich zu verbünden.
Als einziges Volk wären sie ein für die Elfen unbezwingbares Bollwerk gewesen
und hätten sich deren ständige Clanfehden zunutze machen können, um sich einen
festen Stützpunkt auf Aristagon zu schaffen (oder wenigstens zu verhindern, daß
man sie vom Kontinent verjagte!).
Aber die Menschen machten den Fehler, die Elfen
– in ihren Augen verweichlicht und schwach – zu unterschätzen. Die
verschiedenen Parteien mit ihrer langen Geschichte blutiger Fehden waren viel
mehr daran interessiert, sich gegenseitig zu bekämpfen, als Übergriffe der
Elfen abzuwehren. Im Grunde genommen bereiteten die Menschen sich selbst ihre
Niederlage.
Es geschah das Unvermeidliche: Sie waren bald so
geschwächt, daß die seinerzeit regierenden Paxar nur mit dem Fuß aufstampfen
und buh rufen mußten, und die Menschen ergriffen entsetzt die Flucht.
Sie flohen bis zum Volkaran Archipel und weiter,
zu dem größeren Kontinent Ulyndia. Dort hätten sie Gelegenheit gehabt, ihre
Kräfte zu sammeln, um sich neu zu formieren. Während des Bruderkriegs, der
unter den Elfen tobte, boten sich Möglichkeiten zuhauf, im Handstreich alles
Territorium zurückzuerobern, dessen sie verlustig gegangen waren. Gar nicht
ausgeschlossen, daß es ihnen gelungen wäre, das Imperanon einzunehmen, weil
den Menschen damals noch die Mysteriarchen zur Seite standen, deren magische
Fähigkeiten erheblich größer waren als die der Elfen, mit Ausnahme der Kenkari.
Und die Kenkari wahrten – in diesem Krieg – offiziell Neutralität.
Aber die interne Zerstrittenheit in ihrem eigenen
Volk beleidigte und vergrämte bald die Mysteriarchen. Als sie feststellen
mußten, daß ihre Bemühungen, zwischen den verfeindeten Parteien Frieden zu
stiften, vergeblich waren,
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