DRACHENERDE - Die Trilogie
Vergessenen Schatten bis auf den heutigen Tag aktiv sind. Ich will Euch sagen, wieso ich einen Zusammenhang zwischen Euren Beschreibungen, diesen hier vorgefundenen Spuren und den Vergessenen Schatten annehme: In dem Archiv Eurer Ahnen gibt es eine Schriftrolle, die alles festgehalten hat, was sich seinerzeit ereignete, als sich die Bewohner von Qô vom Drachenland abspalteten und ein unabhängiges sechstes Reich gründen wollten. Es ist genau berichtet, wie Kaiser Onjin die Qôaner bestrafte. Wer etwas von der Magie der Verschlüsselung versteht, dem fällt jedoch auf, dass diese Schriftrolle in einem eigenartigen Drachenisch verfasst wurde. Die Wortstellung wirkt gestelzt, ohne dass sich dies durch den Abstand der Zeit erklären ließe, denn andere Schriftstücke, die in derselben Epoche verfasst wurden, weisen diese Eigentümlichkeiten nicht auf.“
Vor seinem inneren Auge sah Rajin das grausige Blutbad, das die Samurai Kaiser Onjins unter den Qôanern angerichtet hatten. Seit Rajin auf der Insel der Vergessenen Schatten gewesen war und er den Chor der Schmerzens- und Verzweiflungsschreie gehört hatte, der sich in jeder Nacht über der Insel erhob, war er diese Traumbilder nicht mehr völlig losgeworden. Auch wenn sich zeitweilig andere Eindrücke in den Vordergrund drängten, irgendwann kehrten sie zurück und raubten ihm in der einen oder anderen Nacht den Schlaf.
„Diese Schriftrolle“, fuhrt Kam Baslo fort, „nennt man das Buch der zwei Wahrheiten, o Kaiser. Und ich erkannte schließlich, wie passend dieser Name war. Denn sie enthält in verschlüsselter Form eine zweite Geschichte, die an die erste anschließt, was aber nur der bemerkt, der den Schlüssel erkennt. Der damalige Schreiber wollte offenbar die Erinnerung an etwas bewahren, was Kaiser Onjin lieber vergessen gemacht hätte ...“
„Sprecht!“, forderte Rajin voller Ungeduld. Er hatte das Gefühl, dass sein Gegenüber längst begonnen hatte, sein im Archiv erlangtes Wissen auszunutzen. Was erhoffte er sich? Eine höhere Position am Hof, nachdem er ein Dasein so lange im kaiserlichen Archiv hatte fristen müssen? Irgendetwas in der Art musste es sein, davon war Rajin überzeugt.
„Nachdem Kaiser Onjin die Qôaner bestraft hatte, suchten ihn in späteren Jahren die Vergessenen Schatten auf ähnliche Weise heim, wie es wahrscheinlich Euch widerfahren ist. In der Schrift ist von ätzendem Blut die Rede – und davon, dass die Schatten die Grabmäler von geliebten Toten schänden.“
„Nya ist nicht tot!“, entfuhr es Rajin mit einer Heftigkeit, die der Situation ganz und gar unangemessen war und auch nicht der höfischen Etikette entsprach, die der Weise Liisho ihn gelehrt hatte.
„Verzeiht, o Kaiser des Drachenlandes“, murmelte Kam Baslo, der sich sogleich sehr tief verneigte. Furcht schien ihn plötzlich zu erfüllen.
„Sprecht weiter!“, forderte Rajin. „Und bedenkt dabei, dass es nicht meiner Art entspricht, jemanden einen Kopf kürzer machen zu lassen, nur weil er eine unangenehme Wahrheit verkündet.“
„Euer Vorgänger war da weitaus weniger zimperlich“, erklärte Kam Baslo zögerlich; das Misstrauen war ihm deutlich anzumerken. „Oft genug benötigte er keinen Grund, um jemanden zum Tode zu verurteilen, und manchmal übergab er Höflinge einfach nur aus einer Laune heraus seinem Lord Drachenmeister, der sie dann in den Kellergewölben unter dem Palast foltern ließ. Vielleicht habt Ihr von den düsteren Leidenschaften dieses Mannes gehört, dem Katagi freie Lauf ließ ...“
„Überall im Land war das bekannt“, sagte Rajin. „Da Katagi seine Herrschaft nicht auf irgendein Recht gründen konnte, musste er sie auf dem Schrecken und der Furcht der Drachenier errichten.“
Kam Baslo nickte leicht. „Euer Vorfahre Onjin verfuhr im Hinsicht auf die Rebellion von Qô offenbar auf ähnliche Weise. Aber das zu beurteilen steht wohl keinem Nachgeborenen zu.“
„Was tat Onjin, um den Angriffen der Vergessenen Schatten zu begegnen?“, fragte Rajin.
„Er fand zunächst kein Mittel dagegen. Sie schlugen immer wieder aus dem Nichts heraus zu. Und da er bereits erfolglos eine Expedition nach Qô entsandt hatte, deren Mitglieder wohl dem Wahnsinn verfielen und elendig zugrunde gingen, erschien es ihm wenig sinnvoll, dies ein weiteres Mal zu versuchen. Aber das Buch der zwei Wahrheiten berichtet, dass der Kaiser alle Weisen und Zauberkundigen des Reiches zu sich rief, damit sie für dieses Problem eine Lösung fanden.
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