Drachenfedern I - Schicksalhafte Begegnung
begangen.
Melli war die Informationsquelle der gesamten Agentur. Nicht nur, weil sie an der Empfangstheke saß, an der sämtliche eingehenden Nachrichten vorbei gelangen mussten, sie war auch die exklusive Anlaufstelle für Klatsch und Tratsch und nicht selten auch Auslöser von Gerüchten. Die Neuigkeit würde sich schneller durch die gesamte Agentur bahnen, als ein Anruf von der Chefetage in den Keller zum Archiv dauerte. Er würde sich blöde Sprüche und Anfeindungen gefallen lassen müssen, vielleicht sogar gemobbt werden. Einige seiner Kollegen zeichneten sich als ausgemachte Machos aus, allem feindlich gegenübergestellt, was ihrem eingefahrenen Bild eines wahrhaften Mannes entgegen stand.
Wie zum Henker kam er dazu, Melli zu sagen, dass er schwul war, oder besser gesagt, sie in dem Glauben zu lassen, dass er nicht mit Mädchen konnte? So etwas Absurdes.
Er war nicht schwul. Auf keinen Fall.
Verflucht nochmal! Wo war sein gesunder Menschenverstand geblieben? Wo hatte sich die natürliche Hemmschwelle versteckt, die ihn davor abgehalten hätte, solch einen Unsinn zu verzapfen?
Seine Stirn fiel hart auf das Lenkrad. Die Beule an seiner Stirn war zwar seit einiger Zeit nicht mehr vorhanden, dennoch flammte der Schmerz stärker auf als erwartet. Jonas stöhnte laut, nicht nur, weil es ihm nun pochend durch den Kopf fuhr, sondern auch, weil er etwas getan hatte, was so ohne Weiteres nicht mehr rückgängig zu machen war.
Vorhin, als er es aussprach, war alles so klar gewesen, so eindeutig, so geradlinig und unmissverständlich. Er hatte es sogar regelrecht befreiend empfunden, als sei ein ganzer Zentner Last von ihm gefallen. Da hatte er sogar selbst daran geglaubt, dass sich seine sexuelle Gesinnung weswegen auch immer verändert hatte. Zweifel hatten lediglich am Rande existiert und warnend mit einem kleinen roten Fähnchen geweht, waren jedoch von einer unerklärlichen Überzeugung vom Spielfeld verdrängt worden. Obgleich …?
Nur weil es ihm irgendwie gefiel, wenn ihn in seinen merkwürdigen Wachträumen eindeutig Männerhände bearbeiteten und sich dabei gewisse Körperregionen regten und prickelnd zu pulsieren begannen, musste dies noch lange nicht heißen, dass er schwul war. Auch wenn bei jeder dieser Vorkommnisse sein Mojo laut jubelnd in die Hände klatschte und zu tanzen begann, war das noch kein Hinweis darauf, dass er sich in Zukunft dem gleichen Geschlecht zugetan fühlte. Das war eine hirnverbrannte Annahme.
Er musste Melli unbedingt anrufen und ihr sagen, dass es alles ein kläglicher Witz war, dass er sich einen üblen Scherz erlaubt hatte, um ihre Reaktion zu testen oder sie sich vom Hals zu halten, weil die Nummer mit ihr in der kleinen Kammer nicht unbedingt ein Highlight seines Lebens darstellte. Was auch immer, er musste es rückgängig machen. Er musste diesen Fehler ausradieren und aus dieser Welt schaffen, ehe er am Montag zur Lachnummer der Agentur wurde.
Hastig riss er sein Handy aus der Tasche und wählte ihre Mobilfunk-Nummer. Melli ging jedoch nicht ran. Vermutlich befand sie sich bereits auf dem Weg zu einer Party und war schon eifrig dabei, diese Meldung jedem zu erzählen, der bereit war, ihr zu zuhören.
Er unternahm noch ein paar Versuche, sie anzurufen – vergeblich. Deswegen nahm er sich fest vor, sie am nächsten Tag anzurufen, oder am Sonntag, oder spätestens am Montagmorgen abzupassen, ehe die Kollegen zur Arbeit erschienen. Er musste ihr klar machen, dass es sich lediglich um einen Scherz handelte.
So klar und einleuchtend, wie seine vermeintlich neue Gesinnung zuvor für ihn gewesen war, so absurd und unmöglich kam es ihm nun vor. Er hätte seine Zunge im Zaum halten müssen, besser aufpassen oder gar nichts erwidern. Stattdessen war ihm etwas über die Lippen geflossen, was sein Leben vermutlich gravierend veränderte.
Es war trotz allem seltsam gewesen. Vorhin, einige wenige Minuten zuvor, war in ihm bei dem Gedanken, fortan als Schwuler angesehen zu werden, weder panische Hysterie aufgestiegen, noch hatte es ihm die Schamröte ins Gesicht getrieben oder ihn gar vor rasender Wut ausrasten lassen. Er hatte es als beruhigend und als richtig empfunden. Er wusste selbst nicht, warum es ihm da nichts ausgemacht hatte.
Früher hätte er jedem ohne mit der Wimper zu zögern die Zähne eingeschlagen, wenn er es gewagt hätte, ihn einen Schwulen zu nennen, und sei es auch alleinig im Zorn. In jenem Moment, wo es so unbedarft und unschuldig aus seiner Kehle
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