Drachengasse 13, Band 01: Schrecken über Bondingor (German Edition)
Blick überzeugte er sich davon, dass niemand im Burghof unterwegs war und alle Wachen, die auf den Mauern Streife gingen, in eine andere Richtung blickten. Dann hangelte er sich geschickt an den Kletterranken hinab, die den zentralen Aussichtsturm überwucherten.
Durch das Haupttor konnte er die Festung unmöglich verlassen. An den Wachen wäre er nie vorbeigekommen. Es gab allerdings eine andere Möglichkeit. Unter dem Bergfried begann ein geheimer Fluchttunnel, den ihm sein Vater einmal gezeigt hatte – für den Fall des Falles. Er war zwar durch eine schwere, eisenverstärkte Tür verschlossen, aber nicht bewacht. Und Tomrin wusste, wo der Schlüssel hing: in einer verborgenen Nische im Keller. Schließlich nutzte ein Fluchttunnel niemandem, wenn er für jene, die ihn brauchten, versperrt war.
Verstohlen schlich der Junge um den Bergfried herum und schlüpfte durch die Tür ins Innere. Obwohl auf der Spitze des Turmes immer ein Wachposten stand, hielt sich in den Räumen am unteren Ende nur selten jemand auf. Wie der Fluchttunnel waren auch sie für schlechte Zeiten gedacht, wenn es nötig werden sollte, sich vor Angreifern im Bergfried zu verschanzen.
Über eine Steintreppe gelangte Tomrin in den Keller, fand den Schlüssel und öffnete die Tür des Fluchttunnels. Sie war fast so dick wie die Hand des Jungen breit war. Kühler, modriger Geruch wehte ihm entgegen. Schnell zog Tomrin die Tür hinter sich zu. Mit deutlichem Klacken rastete der Riegel ein. Jetzt hatte er sich ausgesperrt. Zurück würde er durch das Burgtor kommen müssen. Da aber um acht Uhr in der Früh eine Wachablösung erfolgte, stellte das kein Problem dar. Er würde den neuen Wachposten einfach erzählen, er sei schon um sieben hinunter zum Markt gelaufen.
Im Inneren des Fluchttunnels war es stockfinster, aber Tomrin kannte den Weg und wusste, dass es nur geradeaus ging und keine Hindernisse gab. Mit einer Hand an der kalten Steinmauer entlangstreifend, lief er unter dem Burghof und den Mauern der Festung hindurch, bis er schließlich im Keller eines leer stehenden Hauses herauskam, das der Stadtgarde gehörte.
Der Rest war leicht. Tomrin durchquerte die verstaubten Räume, trat durch die Tür auf die dunkle Gasse und rannte dann, so schnell er konnte, in Richtung der Magischen Universität. Dort würde er zunächst Hanissa abholen, bevor sie beide Sando am Rand des Hafenviertels trafen. Natürlich hatte Hanissa sich dagegen gesträubt, dass Tomrin extra wegen ihr einen Umweg machte. Aber auch wenn er sie für ein außergewöhnlich mutiges Mädchen hielt, blieb es für Tomrin undenkbar, sie allein mitten in der Nacht und nahe dem Vielvölkerviertel durch Bondingor laufen zu lassen. Nachher fiel sie noch irgendwelchen Halsabschneidern in die Hände!
Seine Sorgen waren jedoch unbegründet: Außer einigen Trunkenbolden, früh aufstehenden Bäckergesellen und nimmermüden Nachtwächtern war niemand auf den Straßen unterwegs. Unbehelligt erreichte er den vereinbarten Treffpunkt am Fuß des Hügels, auf dem der Campus der Magischen Universität lag. Hanissa erwartete ihn bereits.
„Du kommst zu spät “ , verkündete sie und trommelte mit ihren Fingern auf die Ledertasche, die sie sich umgehängt hatte.
„Gar nicht wahr “ , verteidigte sich Tomrin. Er kratzte sich am Kopf. „Na ja, vielleicht ein kleines bisschen. Laufen wir eben schneller. Komm .“
Kurz darauf hatten sie Sando an der Osthandelsstraße abgeholt, die das Hafenviertel nach Norden begrenzte. Geführt von ihm, der sich in diesem Teil der Stadt einfach am besten auskannte, rannten sie durch die Straßen und Gassen, bis sie schließlich das Gnomen-Eck von Bondingor erreichten, wo sich einige Dutzend Gnomenfamilien niedergelassen hatten.
Die meisten der Gebäude dort wirkten gedrungen und hatten etwas Höhlenartiges an sich – passend zu ihren Bewohnern, die auch klein und dunkel waren. Ein Bauwerk aber ragte geradezu turmhoch in den Himmel über der Stadt: Es war der Tempel, den die Gnome dem Großen Kapuzenträger geweiht hatten. Sie hatten ihren Gott deshalb so genannt, weil sie sich selbst seit jeher in grau-braun-schwarze Kapuzenumhänge kleideten. Vielleicht trugen sie die Kapuzen aber auch, weil ihr Gott es so wollte. So ganz wusste Tomrin das nicht. Was er hingegen wusste, war, dass die Gnome glaubten, der Große Kapuzenträger säße in einer Wolkenhöhle hoch droben im Himmel. Und um ihm besonders nahe zu sein, erhoben sich ihre Tempel in schwindelerregende
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