Drachenkaiser
die Geister an, die aus der tiefsten Vergangenheit der Stadt emporstiegen. Sie wichen aschfahl vor ihnen zurück und rannten ins Minster hinein, weil sie dachten, der heilige Boden würde sie schützen; die letzten Schaulustigen stoben schreiend davon.
Ealwhina stieß sich ab. »Hoch mit euch!«, rief sie. »Zehntausende sollen uns sehen! Erhebt eure Stimmen, dass alle aus den Fenstern blicken.«
Emporgetragen vom Rufen und Heulen aus unzähligen Kehlen, stieg sie über die Dächer von York und drehte sich dabei um die eigene Achse. Ealwhina sah die ängstlichen Gesichter der Menschen hinter den Scheiben ihrer vermeintlich sicheren Behausungen und das Begreifen in den Augen, dass es keine Einbildung war: York wurde wahrhaftig zur Stadt der Geister.
Feihuä. Wu Li beteiligte sich nicht an dem lächerlichen Spektakel.
Er stand neben seinem Leichnam, den sogar die Polizisten allein gelassen hatten und der schutzlos auf dem Pflaster lag. Er wollte Snickelway nicht begegnen und hatte sich lieber vor ihr verborgen.
Käo. So hätte es niemals enden sollen. Ihm war als Geist ebenfalls der rechte Arm bis zum Ellbogen genommen worden. Ich gehöre nicht nach Britannien, ni näinai de!
Während die Spukgestalten mit ihrer neuen Herrscherin an dem trüben Winterhimmel schwebten und die Yorker in Angst und Schrecken versetzten, drückte er sich ab und flog nach Süden. Wu Li wollte zu seinem Herrn, der ihm in seiner Macht und Weisheit einen Ausweg zeigen würde.
Aber schon an den Stadtmauern endete sein Flug. Eine unsichtbare Sperre verhinderte, dass er York verließ.
Sosehr er sich anstrengte, die Barriere zu durchbrechen, es gelang ihm nicht. Als liefe er gegen gepolsterte Wände, die er ohne Werkzeug niemals bezwingen würde.
Resignierend sank er zu Boden. Es bedurfte keines Bands aus Ektoplasma, das ihn an die Stadt fesselte. Das ungeschriebene Gesetz, dass ein Schuldiger an dem Ort bleiben musste, wo er starb, ließ sich nicht täuschen. Ich bin zu einem Yorker Geist geworden.
Tä mä. Diese kleine Ji. Wu Li seufzte. Jetzt blieb ihm nur die Hoffnung, dass sein Herr bald Europa erobern würde und eines Tages auch nach York käme. Dann würden sie staunen und wahre Macht kennenlernen, vor denen die Welt der Sterblichen und der Geister zitterte! Und er würde endlich seinen Lohn für das große Opfer erhalten, das er seinem Herrn gebracht hatte. Daran gab es keinen Zweifel. Ich werde warten, Läozi.
12. Januar 1927, Dresden, Königreich Sachsen, Deutsches Kaiserreich
Silena hielt die Luger auf die Männer gerichtet und ging zum Telefon, hob den Hörer ab. »Ja?«
Stille am anderen Ende.
»Herr Wilhelm Voss?«
»Wer sind Sie?«, fragte der Mann überrascht und barsch zugleich. »Was haben Sie im Arbeitszimmer meines Sohnes verloren?«
»Herr Voss, Sie reden mit Anastasia Zadornova.« Ihre Stimme zitterte vor Aufregung, schlagartig war ihr speiübel. »Ihr Sohn befindet sich in meiner Gewalt.«
»Aha.«
»Herr Voss, ich habe damit nichts zu tun!«, rief Müller ängstlich und schwieg, als Silena auf seinen Kopf zielte.
Aha? Mehr sagt er nicht dazu? Silena wunderte sich über die nüchterne Reaktion. »Ich rate Ihnen …«
»Sie raten mir gar nichts, Frau Zadornova«, fiel er ihr ins Wort. »Ich möchte mit meinem Sohn sprechen.«
»Nein.«
Es klickte. Voss hatte aufgelegt.
Silena lauschte dem Rauschen in der Leitung und hörte andere, leise Unterredungen, die von anderen Telefonaten stammten und deren Signale sich eingeschmuggelt hatten. Aber Voss war verschwunden. Sein Sohn hat mich gewarnt, dass sie für jeden Fall Vorbereitungen getroffen hatten. Sie ärgerte sich. Er hatte vermutlich aufgelegt, weil er überzeugt davon war, sie in der Hand zu haben. Um die nächste Stufe des Plans der Drachenanbeter aufzuhalten, musste sie Voss senior aufhalten. »Von wo hat Voss angerufen, Müller?«
»Er lebt in Flensburg«, antwortete der Mann sogleich. Schweißperlen sammelten sich auf seiner Oberlippe. »Ich nehme an, dass er von dort telefoniert hat.«
Flensburg war weit weg. Zu weit für sie. Brieuc muss mir wieder helfen. Er muss Leida noch eine Nachricht übermitteln. Sie wählte das Officium an, erreichte den Großmeister jedoch nicht. Ihr wurde schmerzlich bewusst, wie sehr ihr Grigorij fehlte, der ihr in dieser Lage Halt und Sicherheit gegeben hätte. Stattdessen blieben nur Sorge und Angst, die mit seinem Namen verknüpft waren.
Hastig dachte sie nach, an wen sie sich wenden konnte, wem sie vertrauen
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