Drachenkaiser
Alles, was sich darin befand, fing Feuer. Der Druck blies die Scheiben aus den Rahmen und ließ Fetzen der brennenden Vorhänge sowie glimmende Papiere ins Freie trudeln.
Weitere Explosionen in sämtlichen Stockwerken des Officiums erschütterten das Gebäude.
30. Dezember 1926, Sankt Petersburg, Zarenreich Russland
Grigorij saß in einem mit einem Leintuch abgedeckten Sessel im Obergeschoss des Sommer-Palais und blickte auf den Fluss hinaus, der behäbig vorbeiströmte und eine Eisscholle an der nächsten mit sich führte. Die nahe Ostsee verhinderte noch, dass die Temperaturen so tief unter Null sanken wie in Moskau, wo die Menschen unter der Eiseskälte stöhnten. Aber lange würde es nicht mehr dauern, und die Newa war zugefroren. Schiffe fuhren schon jetzt nicht mehr auf ihr.
Die Kälte wird den Motoren meines Luftschiffs zu schaffen machen. Aber der Kapitän ist erfahren genug, um damit zurechtzukommen. Grigorij stand auf und schlenderte weiter in den Salon, in dem einst Katharina die Erste ihre Besucher empfangen hatte. Das Gebäude im Sankt Petersburger Sommergarten wurde von früheren Herrschern wegen seiner dünnen Wände ausschließlich von Mai bis Oktober genutzt.
Ich weiß, weswegen. Er streckte die Hände gegen den kleinen Ofen aus, den man aufgestellt hatte, und wärmte sich. Die Kälte sollte nicht zu tief in das Gemäuer und die Möbel dringen.
Um ihn herum war sämtliches Mobiliar gegen Schmutz und Staub mit Tüchern bedeckt worden; irgendwie hatte sich welkes Laub in den Salon geschmuggelt, daneben lag etwas Mäusekot. Niemand kümmerte sich derzeit um das Palais, das angeblich zu einem Museum umfunktioniert werden sollte. Der ideale Ort für ein Treffen mit seiner Mutter. Einsamkeit inmitten von Trubel.
Grigorij machte sich ernsthafte Sorgen und sah das schlechte Gefühl, das ihn ergriffen hatte, seit er das Briefpapier berührt hatte, bereits bestätigt. Ich müsste sie mitnehmen. Hier ist sie nicht sicher.
Auf dem Weg vom Flugfeld in die Innenstadt hatte er immer wieder Demonstranten gesehen. Arbeiter, Soldaten, einfache Bürger und Kinder. In großen Haufen waren sie mit Schildern über die Prospekte und Straßen gezogen und forderten Reformen, Nahrung und mehr Mitbestimmung.
Das Ende des zaristischen Systems wurde greifbar, die Ausbeutung durch die Adligen und Mächtigen sollte enden. Der ermordete Lenin hatte die Idee einer neuen Staatsform, einer neuen Lebensweise ausgerufen, in der alle gleich waren und es keinerlei Unterdrückung mehr gab.
Natürlich fielen solche Parolen bei einem darbenden Volk auf fruchtbaren Boden. Manche murrten im Geheimen, andere witterten die Zeit des Wandels und waren bereit, dafür zu kämpfen. Mal mehr, mal weniger friedlich. Lenins Tod hatte nichts geändert.
Bewacht und umringt wurden die Unzufriedenen dabei stets von Polizeihundertschaften, und beide Seiten trugen ihre Waffen offen zur Schau. Die Stimmung war aufgeheizt. Ein versehentlicher Schuss, und wenn er harmlos in die Luft ginge, könnte ein Massaker auslösen.
Der Zar ist ein sturer Hund. Das wird in eine Katastrophe münden. Das Empfinden, das ihm üblicherweise Visionen schenken konnte, schwieg zwar unverändert, aber ein ungutes Gefühl warnte ihn davor, zu lange in Sankt Petersburg zu verweilen. Grigorij würde darauf hören.
Die Eingangstür im Erdgeschoss wurde quietschend geöffnet und geschlossen, schnelle Schritte erklangen auf der Treppe.
Grigorijs linke Hand legte sich an den Griff der Luger. Die Nachricht von seiner Ankunft könnte bereits zum Zaren vorgedrungen sein, der ihm durchaus gedungene Schläger oder Schlimmeres sandte.
Der Eingang öffnete sich, und seine Mutter stand auf der Schwelle. Sie trug die Uniform des Ulanenregiments, das ihr als Garde diente, die Haare waren unter den Helm gesteckt. Ein falscher Schnurrbart saß unter ihrer Nase, ein dicker, locker fallender Umhang schützte sie vor der Kälte und verbarg ihre weibliche Figur.
Sie riss den Bart ab und breitete die Arme aus. »Grigorij!«
Er nahm die Hand von der Waffe, warf den Zylinder weg und flog ihr entgegen.
Sie umarmten einander, hielten sich sekundenlang fest, ehe sie sich trennten und die Hände reichten. Er konnte vor Rührung und Freude nichts sagen. Und dennoch fiel ihm auf: Die Sorge hat sie stark altern lassen.
»Du siehst gut aus, Junge«, sagte sie stolz. »Dass du die Finger von Absinth und allem anderen lässt, schadet dir nicht.« Sie bemerkte die gekürzten Haare. »Ein neuer
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