Drachenkaiser
schwiegen mehrere Minuten lang.
»Ich kann es wenden, wie ich will, doch ich komme immer wieder zu dem Schluss: Die Moral wird durch unsere Überzeugungen ersetzt«, sagte Prokop leise und rieb sich mit den Zeigefingern die grauen, kurz geschorenen Schläfen.
»Und durch die Gebote des Officium Draconis«, ergänzte der Erzbischof. »Es darf keine Nachfahren der Heiligen außerhalb unserer Organisation geben. Stimmen Sie mir dabei zu?«
»Sie rechnen ernsthaft damit, dass ich etwas anderes sage?« Prokop atmete aus. »Wir mögen über den Kurs des Officiums nicht einer Meinung sein, doch was sie angeht, haben Sie meine Zustimmung. Großmeisterin Silena ist vor beinahe zwei Jahren am Triglav gestorben.« Er tippte sich gegen das glatt rasierte Kinn. »Wie wäre es, aus der Lüge eine Wahrheit zu machen, Exzellenz?«
Kattla lächelte boshaft. »Was fliegt, kann leicht abstürzen, Prior. Finden Sie nicht auch?«
»Und die Welt ist voller Habgier. Man stelle sich vor, wozu rivalisierende Drachenjäger alles fähig sind«, sagte Prokop.
Kattla schwieg und sah auf den Marienplatz hinab. »Ist es so weit gekommen, dass wir nun Hand an unsere eigenen Heiligen legen?«, raunte er.
»Für Zweifel ist es zu spät. Sie hat sich selbst für tot erklärt, Exzellenz. Wertlos ist sie in ihrer heutigen Position für uns ohnehin. Sie ist keine mehr von uns«, entgegnete der Prior leise, doch scharf. »Wir gaben ihr die Gelegenheit. Gott und alle Heiligen sind meine Zeugen, wenn ich sage: Mir wäre es ebenfalls lieber gewesen, hätte sie sich für einen von uns entschieden. Die Folgen trägt sie, Exzellenz, und diese resultieren aus ihrer freien Entscheidung.«
Kattla hob den Blick, die Augen richteten sich auf den blauen Himmel über Bayern.
Prokop nahm seine Taschenuhr heraus, ließ den Deckel aufschnappen. Im Innern war sein Wappen eingraviert: ein Drache, der, von unzähligen Nägeln durchbohrt, an ein Kreuz geschlagen war. »Die Zeit reicht aus. Ich kann etwas veranlassen, Exzellenz. Niemand wird uns im Verdacht haben.«
Die Entscheidung wurde bei blendendem Sonnenschein verhängt. »Tun wir es, Prior, und machen uns für unsere Überzeugungen und das Officium zu Mördern«, sagte Kattla langsam. »Leiten Sie alles in die Wege, damit Anastasia Zadornova nicht lebend in Bilston ankommt.«
Prokop grüßte und wandte sich zur Tür um, gleich danach war er verschwunden.
Kattla ließ sich in den Sessel sinken, in dessen Polster noch die Körperwärme des Priors steckte, und bedeckte die Augen mit der rechten Hand. »Herr, steh mir in dieser schweren Stunde bei«, betete er. »Weise Silena den rechten Weg, und ich verschone sie.« Er sah auf das Telefon auf dem Tisch.
Es klopfte, und ein Bediensteter brachte ihm ein geöffnetes Paket.
»Ein Geschenk von Herrn Wilhelm Voss«, las er die beigefügte Karte vor. »Als Dank für die neuen Fertigungsaufträge sendet er Ihnen ein Präsent.« Der Mann nahm eine wuchtige Uhr aus schwarzem Marmor aus der Verpackung, welche die Form des Officiumgebäudes besaß. »Er wünscht Ihnen und dem Officium ein erfolgreiches 1927 und eine weiterhin gute Zusammenarbeit. Jedes Büro hat eine bekommen.«
»Sehr großzügig von Herrn Voss. Danke, Rilke. Stellen Sie die Uhr«, suchend blickte Kattla sich um, »auf den Sims am Kamin.« Der Bedienstete tat es und wollte den Raum verlassen, als ihn der Erzbischof zurückrief. »Ziehen Sie sie bitte noch auf und prüfen Sie, ob sie die Zeit korrekt anzeigt.«
»Sehr wohl, Exzellenz.« Rilke kam der Aufgabe sorgsam nach.
Kattla setzte sich aufrecht hin, langte nach dem Telefon und rief im Personalbüro an. »Schicken Sie mir Brieuc noch einmal in mein Arbeitszimmer. Sagen Sie ihm, dass ich ihn nach den neuesten Erkenntnissen zu dem rätselhaften Drachenjäger namens Ichneumon befragen möchte, mit dem er vor zwei Wochen aneinandergeraten ist.« Sein Blick richtete sich auf den Bediensteten, der an den Zeigern der Uhr wackelte. »Was tun Sie da?«
»Sie klemmen«, antwortete Rilke. »Ich kann sie nicht über zwölf Uhr hinausdrehen, Exzellenz.«
»Beschädigen Sie die Mechanik nicht.« Kattla hängte den Hörer auf die Gabel. »Bringen Sie das gute Stück lieber in die Werkstatt.«
»Ah! Jetzt hat es geklickt«, rief Rilke erleichtert. »Soll ich sie fünf Minuten vorstellen, Exze…«
Die Uhr gab ein weiteres Geräusch von sich, und der Stundenzeiger fiel aus der Halterung. Dann explodierte sie und flutete den Raum mit grellen Phosphorflammen.
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