Drachenkaiser
Seele gemacht: sie vernichtet oder erlöst?
Der leuchtende Geist eines verstümmelten Soldaten kam auf sie zu und reckte bittend die Armstümpfe gegen sie. Sein Russisch verstand sie nicht, aber die Geste war eindeutig. Ealwhina hörte das Wispern und Rufen, das sich von allen Seiten näherte. Es hatte sich rasch herumgesprochen, was sie vermochte. Die Toten wollten endlich Ruhe.
Sie schluckte. »Ich kann dir nicht sagen, was mit dir geschieht«, bereitete sie den Armlosen vor und sagte befehlend: »Du bist frei!«
Die Züge des Soldaten entspannten sich, verloren ihren Schmerz, und der Kummer in seinen Augen wich Dankbarkeit, ehe er sich ebenso auflöste wie die Seele ihres Fahrers. Ealwhina spürte sein Glück, das als kleine Welle gegen sie rollte und ihr einen Freudenschauer bescherte. Es war der Lohn für ihre ungeahnte Barmherzigkeit.
Es gab für sie keinerlei Zweifel, dass sie Gutes tat. Dank des Weltensteins. Sie wusste nicht einmal, wie sie es anstellte, aber es gelang. Das kann ich nicht mit jedem Einzelnen dieser armen Teufel machen. So viel Zeit habe ich nicht.
Kurz entschlossen kletterte Ealwhina auf den Tank zurück, sodass sie beste Rundumsicht hatte, und duckte sich. Die Geister der Gefallenen strömten auf sie zu und erhellten die Nacht.
Die Lastwagen indessen zogen sich zurück und verließen das Gebiet, in dem sich die Seelen tummelten. Anscheinend fürchteten die Lebenden, dass sich Dinge anbahnten, die für herkömmliche Sterbliche nicht gut enden würden. Sie wollten Distanz zwischen sich und den Ort bringen. Lediglich ein einzelner Wagen blieb auf der Straße stehen.
Ealwhina sah zum Automobil und spürte regelrecht, dass sich das russische Medium darin befand. Es hatte noch nicht aufgegeben und zeigte sich resistenter gegen die Auren der Toten. Ich tue es einfach. Sie stellte sich aufrecht hin und hob die Arme. »Ihr alle: Geht! Ihr seid frei!«, sagte sie befehlend. In ihrer Tasche wurde es heißer, es stank nach verschmortem Stoff.
Dafür verging ein Geist nach dem anderen. Gleich einer Welle, die kreisförmig durch einen Teich läuft, löste sich eine Seele nach der anderen auf und gab im Gegenzug ihrer Erlöserin Ealwhina ein unvergleichliches Glücksgefühl. Wohlig warm rann es durch sie hindurch und ließ sie zufrieden seufzen.
Das Automobil wendete rasch und fuhr in höchster Geschwindigkeit die Straße zurück zum Stützpunkt.
Ealwhina hatte noch niemals solche Macht besessen! Meine Güte, ist das wunderbar! Sie verfolgte den flüchtenden Wagen mit Blicken und musste sich hinsetzen, sonst hätte sie vor Überwältigung den Halt verloren und wäre gestürzt.
Ohne dass sie es in ihrem Rausch bemerkte, fing ihr Mantel an der Stelle Feuer, wo sie die Splitter des Weltensteins und die Murmel verwahrte. Nur der heftige Regen verhinderte, dass Ealwhina, die nicht mehr aufhören konnte zu lächeln, sich in eine lebende Fackel verwandelte.
Leise klingelnd fielen die Fragmente durch das Loch im Stoff auf den eisernen Leib des Panzers; sie zischten, als sie mit dem nassen Metall in Berührung kamen.
Durch die schnelle Abkühlung geschah es: Die Splitter platzten auseinander und zerfielen in noch kleinere Einzelteile.
Einige davon wurden vom Wasser davongespült, ehe Ealwhina es bemerkte und den Rest mitsamt der Kugel rasch aufklauben konnte. Ich sollte besser aufpassen!, schalt sie sich. De Bercy hat mir noch viel mehr zu erklären. Sie sprang hinab und eilte los.
Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob sie ihren Fund abliefern sollte, wer auch immer hinter De Bercy stand. Sie würde eine außergewöhnliche Macht aus ihren Händen geben.
Nach ein paar Metern rieselten Schneeflocken auf sie herab.
1. Januar 1927, Oranienbaum, 40 Kilometer westlich von Sankt Petersburg, Zarenreich Russland
Hätte ihr der Sinn danach gestanden, wäre Silena sicherlich in der Gartenanlage umhergestreift, anstatt wie angewurzelt auf der Treppe im Freien zu verharren.
Sie hatte nur Augen für das, was mitten im unteren leeren Garten lag und einen merkwürdig anzuschauenden Fremdkörper bildete, als sei es aus einer anderen Welt mitten hinein gestürzt: die Überreste der Anastasia. Zertrümmerte Statuenreste lagen umher, Duraluminiumstreben hatten sich tief durch Schnee und Erde gebohrt, Fetzen der Hülle hingen in den Bäumen und flatterten in der eisigen Brise, die von der See her wehte.
Über Oranienbaum schwebten die Luftschiffe der beiden Drachenjäger-Einheiten, deren deutlich
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