DrachenKind: Gegen die Finsternis (German Edition)
begann er, Jacks Gedanken umzukrempeln. Schon nach wenigen Sekunden fand er, wonach er suchte. Jacks Inneres hatte die Gestalt eines Tigers. Für normale Verhältnisse vielleicht zu groß, aber wie geschätzt nicht größer als ein Pferd. Ein Tiger mit orangerotem Fell und tiefschwarzen Streifen, die ihn fast optisch zerteilten. Am Bauch und im Gesicht hatte er fast weißes Fell. Das Tier sah so stolz aus wie in einem Bilderbuch gezeichnet, prachtvoll und gebieterisch. Wunderschön. Aber Jack hatte ihm nie etwas davon gesagt. Eric hatte ihm alle seine Gedanken mitgeteilt, hatte auf jede noch so intime Frage des Freundes geantwortet. Aber der hatte es ihm einfach verschwiegen. Eric spürte die Enttäuschung in sich, sie wurde langsam zur Wut. Jack zitterte, konnte nicht abschätzen was Eric jetzt tun oder denken würde. Die Hitze, welche von Eric ausging, wurde stärker.
„Seit wann?“, fragte Eric kurz angebunden.
„Vielleicht zwei Monate…“
Jacks Gedanken klangen durcheinander, unsicher. Eric verschloss die seinen und wartete auf eine Antwort von Mia und Seath, auch sie hatten ihre Gedanken verschlossen und Eric hatte keine Lust, sie zu brechen.
Kapitel 26
Nach fast einer Stunde hatten sie dank Erics hohem Flugtempo den Waldrand erreicht. Die herbstlichen Farben der Lichtung und ihres Umkreises wirkten wie eine Einladung zum Spaziergang, die Farbtöne waren noch immer von ungeahnter Leuchtkraft und Intensität. Ein Denkmal, unvergänglich bis zum Ende des Waldes. Eric hoffte es möge nie ein solches geben. Nachdem Mia, Seath und Jack sich mit steifen Gliedern von seinem Rücken herunter gequält hatten, beschloss Eric, auf die Jagd zu gehen. Er tat nichts gegen diesen Instinkt, es lag eben in seiner Natur. Und Hunger hatte er auch noch. Danach würde er dann mit Mia und Seath reden und sie könnten weiter fliegen. Seath wollte diese Pause nur um sich in die Büsche zu hocken und ein wenig auszuruhen. Eric war es recht, so konnte er etwas allein sein. Jack warf ihm einen bittenden Gedanken hinterher, aber Eric ignorierte ihn und flog davon.
Warum hatte Jack ihm bloß nie etwas gesagt? Eric hatte sich schon gedacht, dass Jack sehr nahe an der Erkenntnis seines Geistes dran war. Aber nicht so nahe. Und ein Grund, es auszusprechen, war doch schon die Tatsache, dass Eric ihm mehr bedeutete als sonst jemand? Die Mittagssonne schien ihm auf den Rücken, stand genau an ihrem höchsten Punkt. Eric interessierte es nicht. Unter sich verfolgte er schon seit einer oder zwei Minuten einen großen Hirsch, der durch den Wald rannte. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er es tun sollte. Man konnte doch nicht einfach ein Tier fressen das da so alleine herumlief. Und so groß, dass er davon satt würde, war es auch nicht. Aber dieser Hunger…Als eine Große Lichtung in Sicht kam, stürzte er sich auf das Tier und schnappte zu. Der Schmerzensschrei verstummte fast sofort, als Eric es mit seinen Gedanken betäubte, sich entschuldigte und ihm das Genick brach. Das alles geschah so schnell, dass er kaum Zeit hatte über seine Schuldgefühle nachzudenken.
Er landete auf der Lichtung und ließ seinen kleinen Imbiss ins Gras fallen. Dann entfernte er in Gedanken das Fell und das riesige Geweih, die Knochen und die Innereien. Es kostete ihn viel Konzentration, das alles Wirklichkeit werden zu lassen, denn er ekelte sich teilweise davor, was er da gerade tat. Dann holte er tief Luft und blies mehrmals einen langen, sehr heißen Luftstrom gegen den blutigen Fleischbrocken vor sich im Gras. Der Duft von ungewürztem, gebratenem Hirsch stieg ihm sofort in die Nase und machte ihn noch hungriger. Er schloss die Augen, riss sich zusammen und schlang den kleinen Happen nach kurzem Kauen herunter. Es schmeckte nicht umwerfend, war aber genießbar und er fühlte sich doch schon etwas besser. Dann begann er wieder nachzudenken. Über Jack und dessen Seele, wann auch immer er die wirklich entdeckt und verstanden haben mochte.
Eric legte sich auf den weichen Waldboden. Niemals hätte er das erwartet. Er dachte sich, dass es keinen Sinn hatte, sich drüber aufzuregen. Trotzdem kochte die Enttäuschung in ihm. Die Gerüche des Waldes beruhigten ihn wenig, spendeten nicht wie sonst Ruhe und Trost. Ein Tiger. Warum ausgerechnet ein Tiger? Er hatte in Jack immer einen glücklichen Menschen gesehen, einen mit Humor und unantastbarem Selbstbewusstsein. Sehr sozial, wirklich das, was er einen guten Menschen nennen würde. Wie passte das zu ihm?
Weitere Kostenlose Bücher