Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Drachenkinder

Drachenkinder

Titel: Drachenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
Vom Netzwerk:
hatte?
    Ich erhob mich und ging zu ihnen. Die Männerversammlung nahm nach wie vor keine Notiz von mir. Das war nicht weiter beleidigend, nur dass Dadgul mich keines Blickes würdigte, traf mich wie ein Messer ins Herz.
    »Was ist los? Wo ist Anwar?«, fragte ich mit bebender Stimme.
    Plötzlich schoss Dadguls Zeigefinger vor und hielt erst einen Zentimeter vor meiner Nase inne: »Anwar ist weg! Spurlos verschwunden! Und DU bist schuld!«
    »Ich … Wieso denn ich?« Mein Mund wurde staubtrocken.
    »Du hast ihm Geld zum Wechseln gegeben! Dabei ist alles, was mit Geld zu tun hat, meine Sache!«
    »Aber ich brauchte mehr Afghani, und du warst ja nicht da. Was soll der Scheiß?« Hilfesuchend schaute ich mich zu Mohammad, meinen neuen Wahlverwandten, um. Dieser sah mich aus seinem wettergegerbten Gesicht an, und ich konnte nicht erahnen, was in ihm vorging. Er war mir doch dankbar gewesen! Hatte mich zum Tee eingeladen!
    »Alle lachen über mich!«, fauchte Dadgul mich plötzlich an. Seine Stimme überschlug sich vor Zorn. »Du hast mich verlassen, um zu einem kleinen Trottel zu ziehen! Einem einfachen Arbeiter, der nicht bis drei zählen kann!«
    »Doch. Kann er. Ich hab’s ihm beigebracht.«
    »Du hast mich zum Gespött des ganzen Dorfes gemacht!«, brüllte Dadgul mich an, und in seinen Augen glomm Hass. »Keine Frau wagt das! Auch nicht Frau Schnehage!«
    »Ich vertraue Anwar. Er hat ein gutes Herz«, sagte ich auf Dari.
    Dadgul schlug mit der flachen Hand auf den Plastiktisch, dass die Teepfützen aus den Bechern sprangen: »Los! Hol deine Sachen! Das ist ein Befehl! Du ziehst hier wieder ein!«
    Die beturbanten Köpfe der Männer gingen hin und her wie bei einem Tennismatch.
    »Tu ich nicht!« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und zwang mich, seinem Blick standzuhalten. »Ich habe dir erklärt, warum ich ausgezogen bin, und du warst einverstanden. Du hast mich selbst nach Katachel Arab gefahren, und dort fühle ich mich sicher. Auch vor dir«, fügte ich leise auf Deutsch hinzu.
    »Ich bin hier der Chef! Das ganze Geld, das die Leute in Deutschland spenden, gehört mir, nur mir allein, verstanden?«, brüllte Dadgul und trommelte sich auf die Brust wie ein Gorilla.
    »Das hättest du wohl gern!«, konterte ich. »Ich bin die Chefin der Stiftung Katachel e . V., und ich treffe die Entscheidungen.«
    »Du kommst sofort zurück, oder ich mache ganz großen Ärger.«
    Unbeeindruckt fuhr ich fort: »Ich leite Katachel e . V., und ich entscheide, wo ich wohne. Bestimmt nicht bei jemandem, der mich oder meine Vertrauten bedroht!« Meine Augen sprühten vor Zorn.
    »So? Das wollen wir doch mal sehen.« Dadgul legte seine Pistole auf den Tisch.
    Die Augen der Dorfältesten wurden so groß wie Suppentassen. Da wir inzwischen ausschließlich auf Deutsch stritten, konnten sie nicht mehr verstehen, worum es ging.
    Dass wir keine Komplimente austauschten, war allerdings auch dem letzten Analphabeten klar.
    »Du bedrohst mich nicht, Dadgul, du nicht!« Meine Halsader pulsierte. »Ich habe dir beim Kotzen die Stirn gehalten, deine blutigen Bandagen gewechselt und dir vier Jahre lang Spaghettibrei und Eiersalat eingeflößt, damit du nicht krepierst. Schon vergessen?« (Wie gern hätte ich das auf Dari gesagt, aber dazu fehlte mir leider der Wortschatz.)
    Dadgul hörte das nicht so gern. Auch nicht auf Deutsch.
    »Ich habe mit dieser Pistole schon einigen Leuten Angst gemacht, also glaub nicht, ich mach bei dir eine Ausnahme.«
    »O doch, das wirst du!«, sagte ich mit fester Stimme und sah ihn eindringlich an.
    »Dann glaub doch an den Weihnachtsmann.« Dadgul nahm die Pistole und richtete sie auf mein Gesicht.
    Mein Herz raste. Aber ich hielt seinem Blick stand. Er würde es nicht wagen. Nicht hier vor den Dorfältesten. Nicht vor seiner Familie, die längst neugierig aus den Fenstern sah. Nicht vor den Witwen und Waisen, die sich verschämt an der Hofmauer herumdrückten.
    Plötzlich stand Anwars Vater, der alte Mohammad, auf. Er musste sich mühsam auf einen Stock stützen. Er humpelte auf mich zu und stellte sich, ohne ein Wort zu sagen, genau zwischen mich und die Pistolenmündung.
    Ein weiterer alter Herr mit Turban erhob sich, schlurfte zu mir und stellte sich vor Mohammad. Nach und nach wankten alle Ältesten zu mir und bildeten eine Mauer vor mir.
    Ich nutzte die Gelegenheit, um aus dem Hof zu rennen und in meinen Wagen zu springen. Staubwolken aufwirbelnd und Hühner verscheuchend, raste ich über die rettende

Weitere Kostenlose Bücher