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Drachenkinder

Drachenkinder

Titel: Drachenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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Muttersprache, versteht sich.
    Der Gute sprach natürlich kein Englisch, und so musste ich mit den paar Brocken Dari, die ich bisher von Dadgul gelernt hatte, meinen Standpunkt vertreten. »Entweder Katachel oder nix.«
    Der Gouverneur zeigte sich erstaunlich kooperativ, bedankte sich bei »Mr. Schnehage«, also mir, und die Sache war abgesegnet.

14
    »Dadgul! Was müssen wir einpacken?«
    Endlich war der große Tag der Abreise da. Dadguls Narben waren so weit verheilt, dass sein Gewebe im Gesicht zusammengewachsen war, und auch wenn er aussah wie der Flickenteppich Achtjähriger aus dem Sonderschul-Handarbeitsunterricht, hatte man ihn doch als vorerst geheilt entlassen. Natürlich hatte ich beschlossen, meinen Schützling eigenhändig nach Hause zu bringen. Nie im Leben hätte ich mir das nehmen lassen.
    Leider durften wir wegen der dramatischen Lage nicht nach Afghanistan einreisen. Der Flughafen von Kabul wurde beschossen. Aber nach Pakistan ins Flüchtlingslager Peshawar durften wir reisen. Dort lebten auch Verwandte von Dadgul, aber nicht seine Frau und Kinder. Die waren noch in ihrem Heimatort Katachel.
    »Wecker«, sagte Dadgul.
    »Wie, Wecker? Ich denke, wir nehmen Stifte und Hefte mit und vielleicht noch Decken und warme Kleidung?«
    »Wecker«, beharrte Dadgul.
    »Ach komm, jetzt sei nicht albern. Wir sollten Kuscheltiere einpacken.«
    »Nein, Mama, wirklich! Wecker sind das Allerwichtigste!« Dadgul saß auf seinem Bett und packte seinen Rucksack.
    »Aber warum, Dadgul?« Erschöpft ließ ich mich neben ihn auf die Bettkante sinken.
    »Schau mal, Mama: Bei uns ist jetzt Ramadan.«
    »Ja und?«
    »Die Frauen dürfen nur nachts kochen, weil wir nach Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nichts mehr essen dürfen.«
    »Ist bekannt.« Innerlich schüttelte ich den Kopf. Fasten ist ja gut und schön: In sich gehen, Gott nahe sein – das tun wir ja in der Fastenzeit auch. Aber nachts kochen und sich dann die Bäuche vollstopfen, um tagsüber apathisch rumzuhängen, das macht doch keinen Sinn!
    Wie bei so vielem musste ich erst mal von meinem hohen Ross herunterkommen. Es stand mir nicht zu, über ihre Glaubensregeln zu urteilen oder sie gar infrage zu stellen.
    »Ja, und weil die Frauen die Uhr nicht lesen können, kommen sie nachts alle halbe Stunde an und fragen, wie spät es ist.«
    Ich biss mir auf die Unterlippe.
    »Sie rütteln einen wach und fragen: ›Wie lange noch bis zum Sonnenaufgang? Soll ich jetzt anfangen zu kochen?‹«
    So langsam begann ich zu begreifen.
    »Und wenn du den Frauen die Wecker stellst – können Afghanistans Männer wieder durchschlafen.«
    Dadgul nickte bedächtig.
    »Aber der Muezzin fängt doch ohnehin an zu singen!«
    »Nicht früh genug. Die Frauen müssen ja vorher kochen, also muss der Wecker so gegen drei Uhr nachts klingeln, dann ist das Essen um halb fünf Uhr fertig, und um sechs geht die Sonne auf. Da muss das Geschirr gespült sein.«
    Herr, wirf Hirn vom Himmel, dachte ich insgeheim. Aber wie vermessen war ich denn! Seit über tausend Jahren gilt im Islam diese Regel, da wird doch eine Sybille Schnehage aus Bergfeld sich nicht erdreisten, sich darüber lustig zu machen?! In unserer übertriebenen Konsumwelt machen wir uns ganz anderen Stress, der mit Religion im eigentlichen Sinne auch nicht mehr viel zu tun hat, dachte ich beschämt. Nehmen wir nur mal Weihnachten: maßloser Geschenkzwang. Luxusgüter, Wegwerfartikel, Überfluss, überfüllte Kaufhäuser, Gedrängel, Geltungsdrang, Gier, Alkohol und Essen im Übermaß. Und danach ganze Zeitschriften voller Diätrezepte. Was hat das mit Christi Geburt zu tun?
    »Klar, Dadgul. Wecker. Das Wichtigste überhaupt. Ich geh gleich nachher zwei Dutzend kaufen.«
    »Ach, Mama, du bist die Beste!« Dadgul umarmte mich, und wir packten weiter.
    »Achtung, auf Gleis drei fährt ein: der Intercity von Berlin nach Frankfurt.«
    »Ach, Michael, Scheiße, ich glaub ich krieg Muffensausen!«
    »Ja, wie – du heulst doch nicht etwa?«
    »Ich weiß nicht, Micki, ich hab solche Angst dass ich euch nie wiedersehe …« Schluchzend klammerte ich mich an meine Lieben.
    »Och, Mama, das wird schon!« Simon tätschelte mir verlegen den Rücken. Er witterte sturmfreie Bude. Vanessa schluchzte gleich mit: »Dann bleib doch hier, Mama!«
    »Na, das hättest du dir aber früher überlegen können!«
    Während der Zug pfeifend und zischend einfuhr, fiel ich meinen Eltern, Micki und den Kindern noch einmal stürmisch um den Hals. »Wenn mir was

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