Drachenkinder
und Zucker ließ ich meinen Ankunftstag in Peshawar mit der »Kieler Gruppe« und der HFA ausklingen.
Nachts gesellte sich dann irgendwann mein »Schutzengel« Dadgul zu mir und machte es sich mitsamt geladener Waffe neben meiner Schlafstatt auf dem Fußboden gemütlich.
Na bitte. Wenn das kein romantischer erster Urlaubstag war!
15
»Hier müsste es sein, Mama!«
Dadgul beugte sich vor und redete auf den mageren Taxifahrer ein, der die ganze Zeit so etwas wie Tabak kaute. Aus dem Radio kam eintöniges Geheul, zu dem der Fahrer rhythmisch mit dem Kopf wackelte. (Für mich war das eher entnervendes Gewinsel, für Dadgul und den Fahrer wahrscheinlich der neueste Hit.)
Wir waren über zwei Stunden gefahren, um den Teil des Flüchtlingslagers zu finden, in dem Dadguls Verwandte untergebracht waren. Besser gesagt hausten. Von einer echten Unterbringung konnte keine Rede sein. Zum besseren Verständnis: Über 3,5 Millionen (!) afghanische Flüchtlinge vegetierten in den Slums rund um Peshawar vor sich hin, und das seit vielen Jahren, bei tropischer Hitze ebenso wie bei sibirischer Kälte.
»Was wir uns in Deutschland anstellen mit unseren paar Asylbewerbern!«, ging es mir durch den Kopf. »Wenn da mal ein paar Dutzend auftauchen, gehen die Bürger gleich auf die Barrikaden!«
Der Fahrer bog in Richtung Khyberpass ab. Nach der Überquerung eines trockenen steiniges Flussbettes, nach Gemüseständen, wo runzelige Gestalten hinter runzeligen Kohlköpfen saßen, ja nach einem schlammigen Abwasserkanal, an dem scharenweise halbnackte Kinder spielten, schienen wir unser Ziel erreicht zu haben. Am liebsten hätte ich gleich wieder kehrtgemacht.
»Nein, Sybille, du wolltest es so!«, hörte ich meinen Michael mit fester Stimme sagen. Pobacken zusammenkneifen und durch!
»Gib ihm vier Dollar, Dadgul!«
»Vier Dollar? Mama, das ist viel zu viel!«
»Sag ihm, er kriegt noch mal vier Dollar, wenn er hier auf uns wartet!«
Das sah Dadgul ein. Ein Taxistand war hier nämlich weit und breit nicht in Sicht, und von öffentlichen Verkehrsmitteln konnte keine Rede sein.
»Los, komm jetzt, Mama.« Dadgul marschierte vor mir her, und sofort waren wir von einer Wolke kreischender Kinder umgeben, die uns umschwirrten wie ein Möwenschwarm. Wir passierten mannshohe Lehmwände, kletterten über stinkende Rinnsaale und Gesteinsbrocken, liefen durch ausgetrocknete Bachbetten, überwanden Kackhaufen und Urinlachen. Es stank bestialisch, und ich schlug mir das Kopftuch vor Mund und Nase.
»Dass die ihre Hunde aber auch überall hinscheißen lassen!«
»Das sind keine Hundehaufen, das ist Menschenscheiße«, belehrte mich Dadgul.
Und richtig, jetzt sah ich es auch: Jeder, den ein kleines oder großes Bedürfnis überkam, setzte sich ganz ungeniert auf die »Straße«, hob sein Hemd und machte in die Gegend. (Frauen natürlich nicht. Die haben keine Bedürfnisse in Afghanistan.)
Wir kamen an einem Wasserhahn vorbei, der Treffpunkt einiger Mädchen war, die mit Kanistern bewaffnet Trinkwasser für ihre Familien holten. Auf dem Kopf(tuch) balancierten die Acht- bis Zwölfjährigen dann zehn Liter, ohne mit der Wimper zu zucken. (Das sollten mal unsere verwöhnten pubertierenden Mädchen sehen!, dachte ich erschüttert. Die heulen ja schon, wenn sie mal eben beim Spar um die Ecke Milch holen müssen.) In der schlammigen Lache, die der tropfende Wasserhahn hinterlassen hatte, spielten begeistert barfüßige Kinder.
Wir hasteten durch eine schmale Seitengasse, Ratten huschten geschäftig vorbei, als hätten sie noch was vergessen.
»Mama, da wären wir. Bist du so weit?!« Dadgul schaute mich erwartungsvoll an, und die Vorfreude stand ihm ins Gesicht geschrieben. Nach Jahren würde er seine Verwandten wiedersehen. Er war ein anderer geworden. Es war der größte und erhabenste Moment seines bisherigen Lebens.
Ich atmete tief durch und straffte die Schultern.
»Klar«, sagte ich tapfer. »Ich bin bereit.« Beklommen sah ich zu, wie er an eine klapprige Blechtür klopfte.
Ein junger bärtiger Mann öffnete, die beiden umarmten sich begeistert, und auch ich wurde hineingezogen. Kurz darauf stand ich in einem kleinen Innenhof, in dem mich schon Dutzende von Familienmitgliedern neugierig erwarteten.
»Ähm, hallo erst mal …« Ich winkte verlegen in die Runde. »Ich weiß nicht, ob Sie es schon wissen, aber ich bin die Sybille Schnehage aus Bergfeld …«
(Haha. So sagte ich es natürlich nicht. Ich glaube, ich sagte gar nichts,
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