Drachenkinder
Baramir, Ludin, Shensai, Nassery und Bolakowol standen Schlange, um auch ihre Kinder in die neue, schöne, saubere Schule schicken zu dürfen. Katachel hatte auf einmal so etwas wie ein Ansehen! Wer etwas auf sich hielt, schickte seine Kinder nach Katachel!
Stolz wie Oskar präsentierte mir Projektleiter Dadgul aus der Ferne sein nächstes Projekt: einen einfachen Ringbrunnen im Schulhof. Es waren nicht nur über vierhundert Kinderhände zu waschen, damit keine ansteckenden Krankheiten mehr ausbrachen, es waren auch zweihundert durstige Kindermünder zu stillen! (Na gut. Die Lehrer durften auch mal ran.)
Sauberes einwandfreies Trinkwasser war für meine Schützlinge in Katachel eines der wichtigsten Hilfsgüter. Einerseits verhinderte es den Ausbruch von Durchfallerkrankungen, an denen viele Kinder sterben konnten, andererseits sorgte es langfristig dafür, dass die Leute nicht mehr so viele neue Kinder in die Welt setzten – aus Angst, die bereits vorhandenen könnten bald sterben. Kinder waren schließlich ihre Altersvorsorge, und je mehr man davon bekam, desto besser! Der Ringbrunnen war sozusagen ein allererster Schritt zu einer vernünftigen Empfängnisverhütung.
Im Lauf der Zeit wurde mir, Sybille Schnehage aus Bergfeld, klar, dass eine solche Hilfe zur Selbsthilfe viel wertvoller ist als ständige Belehrungen und Maßregelungen von außen. Das Gleiche galt für die Schulmöbel. Statt unseren »Sperrmüll« über Pakistan nach Katachel zu schaffen, war es doch wesentlich sinnvoller, die Katacheler ihre Schulmöbel selbst herstellen zu lassen! Dadurch entstanden Arbeitsplätze und neues Selbstwertgefühl. Mein Verein musste nur das Baumaterial und die Arbeiter bezahlen. Mensch, Sybille!, dachte ich. Was hast du dich abgerackert mit den blöden Flötotto-Möbeln! Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Man lernt aus seinen Fehlern. Wird demütig. Kann den Menschen nicht einfach so seine eigene Kultur überstülpen. Ein weiteres Beispiel für so einen Anfangsfehler war die Sache mit den Schuluniformen. Für die Jungen ließen wir den Katacheler Schneider braune, für die Mädchen rote Schuluniformen anfertigen. So hatte das unser Vereinsvorstand beschlossen. Erste Fotos zeigten, wie die Jungen und Mädchen in den Pausen gemeinsam im Schulhof Volleyball spielten. Doch was hatte der tapfere Schneider da angefertigt? Für die Jungen braune Uniformen, aber für die Mädchen schwarze lange Gewänder samt Tschador, also Kopftuch – Gott sei Dank keine Tschadori, denn so nennt man dort die Burka.
Zuerst war ich stinksauer und ließ meine Wut an Dadgul aus, der mal wieder für eine Operation in Stuttgart war. Doch als später die Taliban an die Macht kamen, war das die Rettung unserer Schule! Die Mädchen waren fromm und züchtig gekleidet, dies war eine gottesfürchtige Schule, sie durfte bestehen bleiben. Rote Schuluniformen für Mädchen wären für die Taliban im wahrsten Sinne des Wortes ein rotes Tuch gewesen!
Mein alter Bekannter, Governor Maulawi – der, der eigentlich nur eine Schule an der Schnellstraße nach Islamabad gewollt hatte und auch nur mit »Sir Michael Schnehage« zu korrespondieren bereit war, spendete aus eigener Tasche (sprich, staatlichen Mitteln?) Schulhefte und Bücher für unsere ABC -Schützen.
Zwar hielten manche Knirpse auf den Fotos die Bücher noch verkehrt herum in der Hand, strahlten aber bis über beide Ohren in die Kamera.
Übrigens war es ein guter Schachzug, auch die Familien aus den Nachbardörfern an unserem Hilfsprojekt teilhaben zu lassen. So vermittelten Dadgul und sein Cousin Khaista Khan (der Bruder von Khaista Gol, der im Greens -Hotel versucht hatte, mit Gabel und Löffel zu essen) auch Patenschaften an Witwen und Waisen im Katacheler Umland. Neid und Missgunst gab es nämlich nicht nur bei uns in Bergfeld, nicht wahr, Frau Brechenmacher? (Bestimmt gab es auch eine Menge Brechenmachers in Afghanistan. Die hießen da nur anders.) Auf den Fotos, die uns von den Patenfamilien zugeschickt wurden, sahen unsere weiblichen Schützlinge von mal zu mal selbstbewusster und glücklicher aus.
»Sag mal, liebe Karin, was wünschst du dir denn zum dreiundfünfzigsten Geburtstag?«
Karin Hoffmeister war die reizende Lehrerin, die Dadgul und mein Projekt von Anfang an unterstützt hatte. Wir waren inzwischen gute Freundinnen.
»Ach, erinnere mich bloß nicht daran, wie alt ich werde!« Karins Augen lachten mich hinter ihrer Brille freundlich an. »Ich wünsche mir ein ganz
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