Drachenkinder
geht es deinen Onkels, wie geht es deinen Cousins, wie geht es deiner Frau. (Nach Töchtern und Schwestern fragen die nicht. Grummel.)
»Dadgul. Sieh mich an! Hast du mit dem Geld eine Schule gebaut?«
»Ja, klar!« Dadgul sah mich verständnislos an. »Was denn sonst? Du hast doch die Fotos gesehen!«
»Und, spielst du mit offenen Karten?«
»Was willst du denn damit sagen, Sybille? Dadgul presste die Hände ineinander, bis seine Fingerknöchel weiß hervortraten. »Vertraust du mir etwa nicht?«
Ich sah ihm fest in die Augen. »Doch, Dadgul. Ich vertraue dir.«
»Können wir jetzt endlich fernsehen?«, mischte sich ein missmutiger Simon ein.
»Wenn’s unbedingt sein muss«, gab ich klein bei.
Dadgul warf sich bereits in seinen Lieblingsfernsehsessel und starrte auf die Mattscheibe. Fürs Erste war der Herr Projektleiter nicht mehr zu sprechen.
20
Vor Weihnachten konnte Dadgul nicht mehr operiert werden. Erstens zog sich seine Lungenentzündung hin, und zweitens war die Kostenfrage in Stuttgart noch nicht geklärt. Also feierten wir mit einem genesenden Dadgul Weihnachten. Es war für ihn das dritte Mal.
Drei Tage vor Heiligabend hatten wir die inzwischen fünfzig Mitglieder unseres Katachel-Vereins samt anderen interessierten Dorfbewohnern auf einen Diavortrag ins Seniorenzentrum Michaelisheim in Brome eingeladen. Zu selbst gebackenen Plätzchen. Die Reaktionen waren sehr gespalten gewesen: Die einen waren begeistert, übernahmen gleich eine weitere Patenschaft oder stellten sich als mögliche Pflegeeltern für kleine afghanische Patienten zeitweise zur Verfügung.
Unsere Schule in Katachel hieß nun »Regenbogenschule«. Der Regenbogen sollte die harmonische Verbindung aller Hautfarben symbolisieren. Gisela Heeschen hatte die Idee gehabt, und wir klatschten begeistert Beifall. Doch die anderen ergriffen schon die Flucht, wenn sie mich nur von Weitem sahen: »Schließt eure Fenster und Türen und macht die Lichter aus, die Schnehage kommt!«, hörte ich die Brechenmachers rufen. »Wenn sie die Welt retten will, bitte sehr! Aber uns soll sie damit in Ruhe lassen!«
»Nein, wir nehmen kein afghanisches Flüchtlingskind auf! Wie kämen wir denn dazu! Die Kinder sind endlich aus dem Haus, und wir wollen unsere Ruhe haben!«
»Der Monsterausländer ist schon wieder da!«
»Die Hilfshyäne hat sie doch nicht mehr alle!«
»Zur Heiligsprechung rechts abbiegen, zur Seligsprechung links, zu McDonalds geht’s geradeaus, hahaha!«
»Sybille«, tröstete mich Micki, der den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer einstielte. »Das muss dir hier reingehen und da raus.«
»Das ist der Neid, Mama.« Vanessa streichelte meinen Arm. »Die schenken sich alle gegenseitig Stereoanlagen und elektronischen Scheiß und gehen damit virtuell in eine andere Welt, aber du tust es IN ECHT !«
»Was ihr euch da antut, mit dem ganzen Schmuck und den vielen Geschenken!« Dadgul saß unter dem Schnehage’schen Weihnachtsbaum und staunte in die Lichterpracht. In seinen Augen spiegelte sich Kerzenschein. In diesem Moment begriff ich, dass er im Grunde seines Herzens immer noch ein Kind war. Ein Kind, das sich nach Geborgenheit und Liebe sehnte, die es in seinem Leben noch nie richtig erfahren hatte.
»Wie fändest du es, wenn wir für die Kinder in Katachel auch ein Weihnachtsfest organisieren?«, fragte ich.
»Wir haben doch Ramadan!« Stolz blitzte in seinen Augen auf.
»Ja, aber keinen Weihnachtsmann!«
»Sybille, dräng ihnen nicht unsere Sitten auf!«, ermahnte mich Micki. »Sonst wird er dich noch auffordern, den Ramadan bei uns einzuführen!«
»Aber ich finde die Idee gut«, stand Vanessa mir wie immer bei. »Schau mal, Dadgul, die Kinder in Katachel würden sich über so goldene und rote Christbaumkugeln bestimmt freuen! Und die Engel und so!«
Dadgul betrachtete sie froh. »Stimmt. Das fänden die toll.« Er kniff Vanessa anerkennend in die Wange. »Die bringt nächstes Jahr der Weihnachtsmullah!«
Und so kam es, dass unsere gesamte Weihnachtsdekoration samt Krippe, Ochs und Esel, den drei Königen und Maria und Josef nach dem Dreikönigstag in Dadguls Kleiderkoffer verschwand. Später habe ich sie in Katachel vereinzelt wiedergesehen.
Im Lauf der nächsten zwei Jahre wurde aus dem verschlafenen, von Allah vergessenen Kuhkaff Katachel ein Ort mit zahlreichen Entwicklungsprojekten, die aus Eigeninitiative der Einwohner selbst (na gut, ein bisschen auch mit unserer Hilfe) entstanden. Die Leute aus den Nachbardörfern
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