Drachenkinder
unterbringen wollte, und von Ärzten und Krankenhäusern, die die Kosten für ihre Operationen übernehmen würden. Die Mühlen der deutschen Bürokratie dürften jedem bekannt sein. Andere in meiner Lage hätten vielleicht gesagt, ach, dann lassen wir es eben! Aber ich biss mich durch. Es ging um die Zukunft dieses Mädchens. Es sollte ein menschenwürdiges Leben führen dürfen.
Dafür haben wir die afghanische Bürokratie etwas verschlankt.
»Ich brauche die schriftliche Einwilligung ihrer Eltern!«
»Da kannst du lange warten, bis die Lesen und Schreiben gelernt haben!« Der Arzt sah mich nur augenzwinkernd an und drückte seinen eigenen Fingerabdruck auf ein grünes Formular, das die Eltern nie im Leben hätten lesen können: »Hier. Da ist deine Einwilligung!«
»Aber das ist …«
»Schnelle unbürokratische Hilfe«, sagte der Arzt. Auch er war einer, mit dem man Pferde stehlen konnte.
Vier Monate später durfte ich Rahima dann mitnehmen. Heute frage ich mich selbstkritisch, ob es wirklich sinnvoll war, ihr auf diese Weise zu helfen, denn hier kommt ihre Geschichte:
Staunend starrte das Kind mit riesigen dunklen Augen aus dem Flugzeugfenster, und ich trug es ein paarmal zur Toilette. (Wie es da erst staunte, kann man sich kaum vorstellen!)
Wieder einmal half der Lions-Club in Wolfsburg schnell und unbürokratisch: Rahima konnte ein neues Leben beginnen. Sie wohnte bei wunderbaren Pflegeeltern, ging in Wolfsburg zur Schule und erlebte eine sorglose Kindheit. Mit ihrer Schiene, die sie nach der Operation bekam, spielte sie mit den Jungs im Dorf Fußball. Ein paar Jahre später lag sie knutschend mit dem Pastorensohn im Freibad – mit anderen Worten, sie wurde ein ganz »normaler« Teenager. Mir ging das Herz auf, sooft ich dieses kecke Mädchen sah. Insgeheim wünschte ich mir, es müsste nie wieder zurück nach Afghanistan.
Aber das stand natürlich gar nicht zur Debatte. Wenn ich – Verzeihung, Katachel e . V. – Kinder nach Deutschland holte, dann nur, um ihre körperlichen Leiden zu lindern, ihnen Bildung zu geben und sie auf die Rückkehr in ihre Heimat vorzubereiten.
Nur für Mädchen war dieses Procedere doppelt so tragisch wie für Jungen. Und für Rahima, den weiblichen »Krüppel«, der dort nichts wert war, erst recht.
»Dadgul, wenn ich sie zu euch nach Katachel zurückbringe, wünsche ich mir einen ganz tollen jungen Mann für sie!«, rief ich eines Tages ins Telefon.
»Ihre Mutter hat bereits einen für sie ausgesucht«, verkündete Dadgul.«Sie ist obdachlos und arm wie eine Kirchenmaus. Die lukrative Verheiratung ihrer Tochter ist ihre einzige Lebensversicherung.«
»Was ist denn das für ein Kerl?« Ich ahnte bereits Böses.
»Mama, sie ist ein Krüppel! Sie kann froh sein, wenn sie der alte Schuster aus dem Nachbardorf nimmt!«
»Wie alt, Dadgul?« Meine Stimme bebte.
»Zweiundsiebzig. Mama, das ist noch ein Glückstreffer für Rahima!«
»Spinnst du? Rahima ist sechzehn!« Ich schrie fast ins Telefon. »Das lasse ich nicht zu!«
»Dir wird wohl nichts anderes übrigbleiben«, schrie Dadgul zurück. »So sind hier die Regeln! Misch dich nicht ein, Mama, du hilfst ihr nicht, wenn du westliche Maßstäbe ansetzt!« Doch! Kinder werden nicht verkauft. Nur über meine Leiche!
»Ich suche ihr selbst einen Mann«, brüllte ich in den Hörer und warf ihn auf die Gabel. »Was bildet der sich ein?«, schnaufte ich entrüstet und musste erst mal tief Luft holen.
Micki saß zeitunglesend in der Ecke und musterte mich forschend. »Vielleicht hat Dadgul sogar recht damit, dass du keine westlichen Maßstäbe ansetzen darfst!«
»Das ist mir scheißegal!« Meine Augen füllten sich mit Tränen. »Ich lass doch dieses entzückende Mädchen nicht mit einem schmierigen alten Opa in die Kiste steigen!«
»Wenn es nur das wäre …« Michael schüttelte mitleidig den Kopf.
»Ich weiß. Es geht nicht nur ums Ehebett. Mädchen sind billige Arbeitskräfte, Behinderte erst recht. Und wenn die Mutter sie an einen alten Schuster verkauft, kann Rahima für ihn Leder kloppen, bis sie schwarz wird.«
Micki nahm mich in den Arm: »Du machst das schon, Ade Sybille. Du findest schon ein passenes Herzblatt für sie: gleichaltrig, gut aussehend und liebevoll.«
Mir wurde mulmig. Hier im Freibad war sie sorglos, verliebt und übermütig gewesen. Ich war wirklich versucht, sie hierzulassen. Aber das wäre Kindesentführung gewesen. Menschenhandel. Das ging auf keinen Fall. Das stand mir nicht zu. Ich
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