Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition)

Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition)

Titel: Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Szameit
Vom Netzwerk:
wegnähme, dann würde er das wohl endgültig vergessen können. Hendrikje wußte mit dieser dunklen Andeutung nichts anzufangen, und Skagit hüllte sich in eisiges Schweigen.
    Am schlimmsten jedoch war es mit dem dicken Bruno von der Hohen Aue. Zwar wußte Hendrikje aus den Kaderunterlagen um dessen irreparable genetische Abweichungen, und sie kannte auch ein Hologramm des Mannes, aber als sie ihm gegenüberstand, schwankte sie zwischen Lachen und tiefstem Mitleid. Noch nie war ihr ein Mensch von solchem Leibesumfang begegnet, und sie sah auch gleich, daß es nicht ausschließlich Speckwülste waren, was diesen Mann so aufblähte, sondern daß er auch eine vierschrötige Statur, einen weit ausladenden Knochenbau hatte, der ohne das viele Fett womöglich noch bizarrer wirkte…
    Hendrikje brauchte ein Weilchen, um sich an den Anblick dieses monströsen Körpers zu gewöhnen. Vielleicht war es das tiefe Mitleid, das ihr die Ohren für Zwischentöne und Unterschwelliges öffnete – jedenfalls erschütterte sie die Klage dieses Mannes derart, daß sie lange daran zweifelte, überhaupt helfen zu können, und plötzlich erkannte, wie kompliziert ihre Aufgabe wirklich war.
    “Sie nennen mich den Trailerkönig”, erklärte Bruno von der Hohen Aue mit einem Leuchten in den Augen, in das sich ein feuchtes Glitzern mengte. “Hier bin ich zu Hause, hier habe ich nicht nur eine Aufgabe, hier werde ich auch akzeptiert. Klar, manchmal lachen sie über mich, aber sie lachen ebenfalls über Styx wegen seiner Tütchenohren oder über Schnuckchen, dem es sogar noch Spaß macht. Früher habe ich kein Wort herausgebracht, ohne rot zu werden und zu schwitzen. Heute könnte ich lange Referate halten, hier, vor meinen Kameraden. Hier habe ich keine Angst mehr, verstehen Sie das? Hier darf ich sein, wie ich bin, hier nimmt mir keiner übel, daß ich so bin, wie ich geboren wurde. Woanders würde es mir gehen wie den Mungos: Ich wäre ein Außenseiter. Hier fühle ich mich wohl wie…, wie… – bitte lachen Sie jetzt nicht! –, wie im Mutterleib gewissermaßen. Wissen Sie, ich bin nämlich richtig geboren worden, so wie Skamander. Vielleicht bin ich deshalb eine Nummer zu groß geraten, weil kein Genoplastiker an den Chromosomen meiner Eltern herumgeschnippelt hat…” Hendrikje strich sich unwillkürlich über den Leib. Nein, noch war da nichts zu ertasten, aber fast meinte sie, das winzige Knötchen in der Gebärmutter zu spüren, aus dem unaufhaltsam ein neues Leben wuchs. Leise Zweifel kamen ihr, ob es nicht doch verantwortungslos sei, das Kind wie eine Neandertalerin auszutragen, unter Verzicht auf alle prophylaktisch-korrektiven Maßnahmen. Vielleicht sollte sie sich mal nach Brunos Eltern erkundigen, einfach nur, um die Risikoschwelle abschätzen zu können.
    “Nun lachen Sie doch! Klar, Sie haben recht, ich kann mich natürlich nicht daran erinnern, wie es in Mutters Bauch war, jedenfalls nicht bewußt, doch manchmal glaube ich, daß die Behauptung der alten Psychoanalytiker richtig ist, ein Kind erleide während der Geburt ein determinierendes Trauma, weil es den Ausstoß aus dem Mutterleib wie einen Schock empfinde… Entschuldigen Sie, ich schwafle hier was zusammen…”
    Nun bekam der dicke Bruno doch rote Ohren, und Hendrikje griff lächelnd nach seiner Hand, um sie sanft zu drücken. Doch seine Reaktion verblüffte sie. Er zog die Hand ruckartig zurück, als hätte ihn eine Schlange gebissen, dabei flüsterte er: “Nein! Bitte, lachen Sie nicht, bitte nicht…”
    Hendrikje hatte zwar gelächelt, aber nicht über Brunos Worte, und sein Vorwurf war unberechtigt. Sie hatte nur an die Aussprachen gedacht, die ihr bevorstanden, und sie hörte in Gedanken Aberschwenz von der Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft, von pflichtgemäßer freiwilligerÜbererfüllung und von Arbeitskraftausfall reden… Deshalb hatte sie gelächelt.
    “Ich lache Sie nicht aus, Bruno, glauben Sie mir bitte”, sagte sie unsicher, weil sein Blick sie erschreckte. “Ich verstehe Sie sehr gut…” – das war eindeutig gelogen, wie ihr jetzt bewußt ist, denn sie hatte lediglich mit dem Gehör Brunos Worte verstanden, nicht aber mit dem Herzenseine tiefen Ängste – “und ich werde mich dafür einsetzen, daß Sie in ein Kollektiv kommen, das Ihnen ähnliche Bedingungen bietet. Das verspreche ich Ihnen!”
    “Nein, tun Sie das nicht!” verlangte Bruno entschieden. “Versprechen Sie mir nicht Sachen, die Sie unmöglich bewerkstelligen

Weitere Kostenlose Bücher