Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition)
können! Sie schaden damit nur sich selbst und mir… Es gibt keinen Ersatz für eine Familie…, nun lachen Sie wieder!”
Er sagte den letzten Satz schon nicht mehr vorwurfsvoll, sondern sichtlich verärgert.
“Nicht doch, nicht doch!” sprach Hendrikje hastig. “Ich mußte nur gerade an meine eigene Familie – wie Sie es nennen – denken.”
“Jaja, ich weiß: Heute nennt man es Lustpartnerschaft, und man heiratet nicht mehr, man läßt sich registrieren.” Bruno winkte verächtlich ab. “Sie glauben sicher, ich wäre etwas angestaubt. Aber wissen Sie, damals – das muß alles noch irgendwie lebendiger gewesen sein, da muß eine Familie ungefähr das gewesen sein, was für mich die Leute auf der Ikaros sind. Es ist ja nicht nur so, daß wir lediglich zusammen arbeiten, und auch nicht so, daß wir uns immer vertragen miteinander. Wir sind wie ein Körper mit Armen und Beinen und einem Kopf – das ist natürlich Flakke –, wir haben sogar eine eigene Sprache. Das können Sie nicht merken, weil Sie nicht die feinen Nuancen in unserer Sprache kennen, nicht die Gesten und Gebärden, die manchmal mehr als Worte sagen, Sie können das alles nicht wissen, weil Sie nicht dazugehören. Und wir haben auch unsere eigenen Normen, wir sind gewissermaßen für alles, was wir tun, unser eigener Maßstab.”
“Ja – aber…, aber die Gemeinschaft…”, stotterte Hendrikje.
“Die ist weit weg.” Bruno winkte erneut ab, beinahe ein wenig überheblich, und es verwunderte sie besonders, daß Bruno von der Hohen Aue eine Spur Selbstüberhebung zu zeigen imstande war.
“Wir sind selbst die Gemeinschaft, und die terranische Gesellschaft ist für uns wie ein ferner Nebel, aus dem Befehle und Beförderungen, Fragen und Antworten, Lob und Tadel kommen. Das alles sind aber Dinge, die uns nicht mehr interessieren als irgendwelche Noten auf Schulzeugnissen, wenn Sie verstehen, wie ich das meine.”
Hendrikje schüttelte benommen den Kopf. Von der Hohen Aue sprach derart ketzerische Ansichten aus, daß sich ihr Verstand weigerte, die Auseinandersetzung damit zu führen.
“Ich meine, für eine schlechte Zensur gibt's ein väterliches Donnerwetter, und dann ist die Angelegenheit vergessen. Das bringt die Familie nicht ins Wanken, aber als ich das erstemal in meinem Leben nach Mitternacht nach Hause gekommen bin, da zeterten meine alten Herrschaften tagelang und meinten, alle ihre Erziehungsbemühungen seien umsonst gewesen. Verstehen Sie jetzt?” Bruno fragte spürbar ungeduldiger.
Wieder mußte Hendrikje verneinen. Diese Probleme kannte sie nicht,im Nesturbanidum gab es kein Donnerwetter, weil dort Überraschungen ausblieben, und die Ausgangszeiten wurden von ihr nie überzogen.
Bruno runzelte die Stirn. “Sie dürfen mir das hier nicht wegnehmen”, flüsterte er heiser, “hier bin ich doch der Trailerkönig.”
Erst Stunden später kapierte Hendrikje allmählich, was dieser Mann meinte. Anfangs allerdings glaubte sie, es würde irgendwie mit seinem Handikap zusammenhängen, doch als sie länger darüber nachdachte, erkannte sie, daß Brunos besondere Situation lediglich dazu beitrug, das Problem noch klarer und schärfer hervortreten zu lassen als bei anderen Menschen. Und so verstärkte sich ihre Ahnung, daß eine Kaderakte und ein Psychogramm wenig geeignet sind, ein Bild von einem Menschen zuliefern, von dessen Wünschen und Ängsten, Zielen und Fähigkeiten. Was aber ist das Wesentliche einer Persönlichkeit? Ist es überhaupt möglich, ein gültiges Bild von etwas zu entwerfen, was sich beständig wandelt?
Hendrikje ist sich klar darüber, daß ihr eine lange und mühsame Suche bevorsteht.
Unter ihr wabert und wogt es wie flüssiges Gold. Dunkle Flecke treiben wie Schlacke über den endlosen Ozean, Wirbel und Strudel drehen sich scheinbar träge; aber von Skamander weiß sie, daß jedes dieser Gebilde fast so groß wie die ganze Erde ist und daß diese Ströme von Sonnenplasma mit irrsinnigen Geschwindigkeiten rotieren.
“Schauen Sie, da!” ruft Skamander und zeigt auf das leicht flatternde Omegasegel.
Zuerst erkennt Hendrikje nicht den Anlaß seines Ausrufs. “Da! Die kleinen Punkte!”
Sie folgt dem ausgestreckten Zeigefinger und sieht nun einen Schwarm glitzernder Fünkchen, die unter dem gewaltigen Foliesegel hervorstieben. “Das sind die tektonischen Bomben”, erklärt Skamander, und Hendrikje kann sich erst nicht vorstellen, daß jedes dieser Fünkchen imstande sein soll, einen ganzen Mond
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