Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition)
Kabinentür klopft. Die ganze Zeit hat sie am Bullauge gesessen und auf die Sonne gestarrt. Aber sie hat nicht die Eruptionen und Strudel gesehen, sondern Dinge, die noch in weiter Zukunft liegen.
Die Störung behagt ihr nicht. Einzig der Gedanke, Hermel könnte es sein, versöhnt sie ein wenig, und sie sagt seufzend: “Komm herein, es ist nicht verriegelt.”
Sie hofft, er würde sich still neben sie setzen und schweigen. Er darf nicht weiter in sie dringen, wenn er sie in ihrem Entschluß nicht wankend machen will. Worte können nur noch zerstören, sie braucht jetzt Zeit und Ruhe, um Kraft zu sammeln. Denn an seiner Seite braucht eine Frau sicherlich sehr viel Kraft. Er darf jetzt nicht mehr fordern, als sie freiwillig zu geben bereit ist, das wäre das Ende dessen, was gerade erst beginnen soll.
Die Tür öffnet sich, und ein massiger Schatten erscheint in der Öffnung. Die kurzen grauen Stoppeln auf dem kantigen Schädel schimmern in der Dunkelheit silbrig.
“Ach, du”, sagt Hendrikje enttäuscht und sieht wieder aus dem Bullauge.
Flakke bleibt unschlüssig in der Tür stehen und fragt: “Darf ich hereinkommen?”
“Du bist doch der Kommandant und nicht der Direktor in einem Mädchenpensionat – was fragst du also?” Hendrikje spürt, daß ihr Spott keine Schärfe hat. Eigentlich ist ihr gleichgültig, was Flakke tut, wenn er nur bald wieder geht.
Flakke reagiert nicht auf ihre ironische Antwort.
“Was willst du, Ireas?” fragt sie unwillig. Er räuspert sich und fährt sich mit der Hand durch die grauen Haare, wie hilflos. “Gibst du mir die Briefe, Hendrikje?” fragt er schließlich leise.
Die Briefe – mein Gott, wie klein können Männer sein, denkt sie etwas verächtlich. Die Briefe will er. Hat er solche Angst um seine Würde, daß er sich von diesem unwichtigen Papierkram bedroht fühlt? Soll er sie doch haben, sie bedeuten ihr nichts mehr angesichts der Zukunft. Mit einer müden Bewegung langt sie unter die Koje und zieht eine kleine Kassette hervor.
Flakke starrt ungläubig auf die beiden gefalteten Bögen.
“Da, mach damit, was du willst”, sagt sie gleichgültig.
“Du bekommst sie ja wieder, ich möchte sie nur noch einmal lesen”, murmelt Flakke und betastet erstaunt die angesengten Ränder. “Wolltest du sie verbrennen?” fragt er zögernd.
Hendrikje lacht kurz auf und kann nicht verhindern, daß eine Spur von Bitterkeit in diesem Lachen mitschwingt. Sie erinnert sich daran, wie sie hastig Roberts Container aufriß, um zu retten, was zu retten war… Wie lange ist das her! Und doch ist ihr dieser verrückte Tag so gegenwärtig, als sei er noch gar nicht zu Ende. Und ein leises Bangen erfüllt sie, als sie merkt, daß alle Erinnerungen an ihr Leben vor diesem Tag nur Nebelfetzen sind, daß sogar Flakkes Bild verblaßt ist, daß sie sich kaum darauf besinnen kann, ob er die schulterlangen Haare glatt oder gewellt trug und ob sein Gesicht damals schon so von Falten zerfurcht war. Ein ganz anderer Flakke scheint vor ihr zu stehen, ein Fremder für sie, weil sie keine Erinnerungen mehr hat.
“Wozu verbrennen”, sagt sie nachdenklich, “wenn es nur noch Papier ist und nichts weiter…”
Ireas Flakke nickt düster. “Ich weiß: Ich habe mich benommen wie ein Urmensch.”
“Daran liegt es nicht, Ireas”, entgegnet Hendrikje schnell, um der Entschuldigung, die auch nichts mehr ändern kann, zuvorzukommen. “Damals war ich wie ein Kind, das Angst hatte, sich in der Unüberschaubarkeit der Welt zu verlaufen, und das daher willig jedem hinterhertrottete, der es bei der Hand nahm. Jetzt habe ich keine Angst mehr vor dieser Unüberschaubarkeit, weil ich einen Weg gefunden habe, der mich vielleicht an eine Stelle der Welt führt, von wo aus ein Teil der Wirklichkeit zu überblicken ist. Weißt du, ich denke, ich habe begriffen, daß man beim Laufen nicht nur vor lauter Angst zu stolpern auf die Füße starren darf…”“Also hast du jemanden gefunden”, stellt Flakke trocken fest und lächelt traurig.
Hendrikje ist abermals verblüfft über seine Menschenkenntnis. So war es schon immer: Er wußte immer eine Sekunde früher als sie, was sie bewegt, was in ihr vorgeht. Aber ein wenig ärgert sie seine Feststellung auch.
“Meinst du, ich wäre nicht imstande, aus eigener Kraft erwachsen zu werden?” fragt sie spitz.
“Du hast mich mißverstanden”, murmelt Flakke, “ich beneide dich ja darum, daß du offenbar jemanden hast, der dir solche Kraft zu geben vermag,
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