Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition)
eine Qualle in den Mund und kaut ungeduldig darauf herum. Endlich wirkt das Hormon.
Sie schluchzt wehleidig auf und heult ein wenig. Skamander, Goff, Flakke, ihr Kind – was soll aus all diesen Menschen werden? Ihre Tränen fallen wie kleine Opale in eine ungewisse Zukunft, und plötzlich kommt ihr ein Märchen in den Sinn, in dem erzählt wird, die Sterne am Himmel seien die Tränen eines Gottes, die dieser aus Trauer darüber vergoß, daß er nicht zu den Menschen hinabsteigen durfte, denn er fand niemanden, der die Kraft besaß, das Weltrad zu bewegen, und so blieb ihm nichts, als es selbst unermüdlich weiterzudrehen und zu weinen…
KAPITEL 20
Marigg Ellis verriegelt die Tür der Roof und öffnet dann erst den Container mit seiner persönlichen Habe, entnimmt ihr eine kleine Schatulle aus elloranischem Jaspis.
Versonnen und etwas wehmütig blickt er auf das Behältnis. Wüßte irgend jemand von diesem Geschenk des greisen Dual – Marigg wäre rehabilitiert und aus der freiwilligen Selbstverbannung erlöst.
Am Tage des Abschieds hatte Marigg noch einmal das Taurusgebirge bestiegen, jenen Gipfel, auf dem er den alten Meister niederrang. Voll Trauer schaute er über die zackigen Bergkämme, ließ den Blick auf dem üppigen Grün der Täler verweilen und folgte mit den Augen dem Lauf der glasklaren Flüsse. Er atmete noch ein letztes Mal tief ein, bis die seidige, von allerlei Düften geschwängerte Luft seinen Brustkorb schier zerreißen wollte, dann wandte er sich zum Gehen.
“Warte, Marigg Ellis!” ertönte eine knorrige Stimme in seinem Rücken, eine alte Stimme, die aber trotz ihrer Schwäche noch den Klang eines ganzen Jahrhunderts ahnen ließ, Ströme von Kraft und Zeit.
Aus einer Felsnische löste sich die Kontur einer menschlichen Gestalt, grau und verwittert wie das Gestein der Berge, mit schlohweißem Haar, das wie Rauhreif den Kopf umschloß und in eisigen Zapfen über die Schultern stach.
“Warte, Marigg Ellis! Du sollst nicht gehen wie ein Ausgestoßener, nicht den Haß auf einen alten, eigensinnigen Mann mit dir nehmen.”
Steif und kalt stand Marigg vor Dual und preßte trotzig die Lippen aufeinander, damit sie dem Zorn und der Verachtung in seinen Gedanken keine Worte gaben.
Der greise Dual fuhr sich mit der Hand über die Augen und murmelte: “Ja, nicht einmal du kannst dieser Kraft wehren, die in dir ist, die deine Gedanken, deinen Willen hinaus in die Berge schreit – wie sollte ich ihr als alter Mann da standhalten, sie gar bezwingen.” Dann hob er den Blick, und seine eisblauen Augen leuchteten wie Diamanten. “Hüte dich vor dieser mächtigen Kraft, Marigg Ellis. Lerne, sie zu zügeln. Du mußt sie dir untertan machen, wenn du nicht möchtest, daß sie dich zerstört, vernichtet…”
“Was willst du?” fragte Marigg finster.
“Bezähme deinen Zorn, Marigg Ellis”, entgegnete Dual mild, “du hast nichts von Wert verloren. Der Triumph ist der Nektar der Eitelkeit, der Sieg Beginn, nicht Ende des Kampfes. Du sollst Ellora verlassen, um eines Tages zurückzukehren. Meine Tage sind gezählt und deine Augen blind. Alle Augen auf Ellora sind erblindet. Geh und lerne sehen.”
Marigg begriff nicht den Sinn dieser Worte. Erst in der Ferne, viel später also, begann er zu ahnen, was Dual forderte. Und mit Unruhe stellte er fest, daß die Fremde tatsächlich seinen Blick auf die Heimat schärfte, daß er Dinge an diesem flirrenden Stäubchen Ellora entdeckte, die ihm hinter den zerklüfteten Bergen verborgen geblieben waren, die sich unter dem schwelgenden Grün der Täler versteckt hatten und die vom Wasser der Flüsse davongespült worden waren, solange er Elloras Boden unter den Füßen spürte. Damals jedoch erbosten ihn Duals Worte. “Dann geh du doch und übe deine Augen!” antwortete er bissig.
Dual lächelte traurig. “So weit tragen meine Füße mich nicht mehr, wie ich gehen müßte”, sagte er, “ich bin alt und brauche mich der Blindheit nicht zu schämen. Ihr aber, ihr Jungen, ihr dürft nicht stehenbleiben, wo der Fuß des Blinden stockt. Durchschreitet die Welt, und jeder Schritt, der dich in die Ferne führt, wird in Wahrheit ein Stück Weg zum Geheimnis unseres Lebens sein.”
“Unser Leben ist kein Geheimnis!” widersprach Marigg kühn. Doch der alte Dual lächelte erneut. “Womöglich wird dieser Weg dich bis an den Rand der Galaxis führen. Du wirst Terra sehen, ein heiliges Fleckchen der Unendlichkeit, dort kann man es noch ahnen, dieses
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