Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition)
Boden unter den Füßen wegreißt, ahnt er mit einiger Sicherheit, daß von den Segeln der Ikaros wohl nur noch flatternde Fetzen übrig sind.
KAPITEL 3
Immer noch unter dem Eindruck des turbulenten Morgens stehend, erreicht Hendrikje Greiff das Zentrum für Sonnenforschung. Der Amigo jagte die Serpentinenauffahrt im Urbanidum Universum hinauf, daß die Stockwerke an ihnen vorbeiflogen wie aufgescheuchte Vögel. Hendrikje hatte zeitweilig das Empfinden, als schossen nicht sie mit wahnwitziger Geschwindigkeit nach oben, mitten durch von ihnen überholte Fahrzeuge hindurch, sondern als stürze das Gebäude gewissermaßen an ihnen hinunter, als verschlinge ein gräßlicher Strudel alles rings um sie und nur sie würden von einer Zauberkraft in der Schwebe gehalten. Sie hätte dem Amigo keine Qualle geben dürfen! Aber als sie ihren Bedarf in einem der unzähligen Kupatpunkte deckte, der Betrag vom Psiegellokator von ihrem Genußmittelkonto abgebucht wurde – da brachte sie es nicht übers Herz, dem Betteln des Amigos zu widerstehen. Während ihr Gefühlspotential anstieg dank der dritten Qualle an diesem Tag, da hämmerte sie sich immer wieder ein, daß diese organischen Mechanismen mit dem ebenso organischen Hirn doch nur Maschinen seien – vergebens, dasÄchzen und Stöhnen dieses raffinierten, hinterhältigen Fahrzeugs brach ihren Widerstand.
Eigentlich sollte sie es nicht bereuen, die irrsinnige Jagd durch Amorix ist fast soviel wert wie eine ganze Dose Quallen.
Die Psiegelkontrolle am Eingang zum ZSF hält sie zurück. “Ihre Quallen bitte, Bürgerin.”
Die beiden Männer tragen keine Schmeichelmooskleidung, sondern sind von Kopf bis Fuß in gleißendes Schmieggold gekleidet. Irgendwie ärgert das Hendrikje jedesmal, wenn sie die Kontrolle passiert. Schmieggold! Sie muß Monate lang die Punkte für ihr Konfektionskonto sparen – oder das Große Gehirn bemogeln und Punkte von anderen Konten umbuchen –, will sie sich nur ein Paar Stiefel aus diesem kostbaren Stoff kaufen. Und diesen penetrant neugierigen und aufdringlichen Wächtern wirft man es hinterher, nur weil sich sonst niemand findet, der als Dritt - oder Viertberuf diese Aufgabe übernimmt, die aus unerfindlichen Gründen als wenig ehrenvoll gilt.
Schmieggold! Diese Korallenartigen vom Asper im System Tul, die sich förmlich danach reißen, in Symbiose mit dem Menschen zu leben, die aber beinahe ausgestorben wären, als die Menschen die Felswüsten des Planeten kultivierten und den auf wenige Oasen angewiesenen natürlichen Feinden der Korallenartigen damit neue Lebensräume erschlossen.
“Bitte, verstehen Sie, Bürgerin, es ist nun mal verboten.” Die beiden haben Hendrikjes Miene wohl mißverstanden.
“Aber natürlich.” Sie gibt ihnen das Behältnis und nimmt zur Kenntnis, daß es in das Fach mit ihrem persönlichen Kode gelegt wird. In ihrem Beruf ist es verboten, sich während der Arbeit zu stimulieren, deshalb übertreibt sie es morgens gelegentlich, wie soll man das sonst vier Stunden durchhalten…
Sie sieht die Notwendigkeit dieser Anordnung ohne weiteres ein, ein Kaderorganisator muß frei von verwirrenden, subjektivierenden Gefühlen sein – da hat der klare, ungetrübte Verstand zu regieren. Und ein wenig stolz ist sie schon darauf, daß es ihr immer besser gelingt, beim Betreten ihres Tätigkeitsbereiches in eine für andere unsichtbare Haut zu schlüpfen. Kurz steigt in ihr die Erinnerung an die ketzerischen Gedanken am Morgen auf. Es ist doch so gleichgültig, was bleibt, denkt sie, wichtig ist, daß man etwas bewegt oder wenigstens in Bewegung hält, solange man dazu fähig ist. Und sie bewegt Hunderte von Menschen, Leute. die ihr hohes Leistungsvermögen nur dadurch voll entfalten können, daß sie erkennt und wertet, wozu diese Menschen in der Lage sind, sie zweckentsprechend einsetzt.
Als sie den Terminal ihres Anschlusses an das Große Gehirn – jenes unfaßbare Gebilde aus menschlichen Nervenzellen, deren Anzahl wohl die der Sterne im Universum übersteigt – vor sich hat und die erste psychogrammatische Kurve über den Bildschirm zittert, ist beinahe alles vergessen, was diesen Morgen aus dem Gleichmaß ihres Lebens heraushob.
Beinahe alles, und doch kann sie der Versuchung nicht widerstehen, das Große Gehirn ein zweites Mal zu hintergehen. Damals, als sie Ergars Daten abfragte, hatte sie kaum ein schlechtes Gewissen. Heute spürt sie ihren Puls in den Schläfen pochen, als sie den ersten Befehl eingibt.
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