Drachenläufer
Wasser. Nur an Kindern, die ihre Kindheit verloren haben, mangelt es nicht. Und das Tragische ist, dass ausgerechnet sie noch Glück hatten. Unsere Kapazitäten sind erschöpft. Tagtäglich muss ich Mütter abweisen, die uns ihre Kinder bringen.« Er trat einen Schritt auf mich zu. »Sie sagen, dass es für Suhrab Hoffnung gibt? Das würde ich mir sehr wünschen, Aga. Aber ... ich fürchte, Sie kommen zu spät.«
»Was soll das heißen?«
Zaman wich meinem Blick aus. »Folgen Sie mir.«
Vier kahle, rissige Wände, eine Matte auf dem Boden, ein Tisch und zwei Klappstühle: Das war das Büro des Heimleiters. Zaman nahm auf dem einen, ich auf dem anderen Stuhl Platz. Aus einem Loch in der Sockelleiste steckte eine graue Ratte den Kopf hervor und flitzte dann quer durch den Raum. Ich zuckte zurück, als sie an meinen Schuhen schnupperte. Dann interessierte sie sich für die von Zaman und huschte schließlich durch die Tür nach draußen.
»Sie fürchten, ich sei zu spät gekommen. Was meinen Sie damit?«, fragte ich.
»Darf ich Ihnen eine Tasse chai anbieten? Ich könnte eine Kanne aufgießen.«
»Nay, danke. Mir war's lieber, wir kämen gleich zur Sache.«
Zaman lehnte sich zurück und verschränkte die Arme auf der Brust. »Was ich zu sagen habe, wird Ihnen nicht gefallen, ganz abgesehen davon, dass die Sache auch sehr gefährlich werden könnte.«
»Für wen?«
»Für Sie. Mich. Und natürlich auch für Suhrab, wenn es denn nicht schon zu spät für ihn ist.«
»Ich muss Bescheid wissen«, sagte ich.
Er nickte. »Verstehe. Aber zuerst möchte ich Ihnen eine Frage stellen: Wie wichtig ist es für Sie, Ihren Neffen zu finden?«
Ich dachte zurück an die Schlägereien auf der Straße, bei denen Hassan immer für mich eingestanden hatte und er es oft gegen zwei, manchmal sogar gegen drei Jungen aufnehmen musste. Ich hatte zugesehen, wohl auch eingreifen wollen, war aber immer wieder zurückgeschreckt, zurückgehalten von irgendetwas.
Ich warf einen Blick in den Flur und sah eine Gruppe von Kindern im Kreis tanzen. Ein kleines Mädchen, dem das linke Bein unterhalb des Knies amputiert worden war, hockte auf einem verschlissenen Teppich, sah lächelnd zu und klatschte im Takt. Wie ich sah, beobachtete auch Farid die Kinder; seine verkrüppelte Hand hing seitlich herab. Ich erinnerte mich an Wahids Jungen und ... mir war plötzlich klar: Ich würde Afghanistan nicht verlassen, ohne Suhrab gefunden zu haben. »Sagen Sie mir, wo er ist«, sagte ich.
Zaman sah mir in die Augen. Dann nickte er, nahm einen Bleistift zur Hand und drehte ihn zwischen den Fingern. »Lassen Sie meinen Namen bitte unerwähnt.«
»Versprochen.«
Er tippte mit dem Bleistift auf den Tisch. »Versprochen oder nicht, ich fürchte, dass ich diesen Augenblick noch bereuen werde. Aber es muss wohl sein. Verflucht bin ich so oder so. Doch wenn für Suhrab etwas getan werden kann ... Ich sag's Ihnen, weil ich Ihnen glaube. Es scheint, Sie stecken selbst in Schwierigkeiten.« Er legte eine lange Pause ein. »Es gibt da einen Talib-Funktionär«, murmelte er schließlich. »Er kommt alle ein, zwei Monate zu Besuch und bringt Geld. Es ist nicht viel, aber besser als gar nichts.« Sein fahriger Blick wich immer wieder aus. »Meistens nimmt er sich ein Mädchen. Aber nicht immer.«
»Und das lassen Sie zu?«, meldete sich Farid zu Wort. Er kam um den Tisch herum und ging auf Zaman zu.
»Was bleibt mir anderes übrig?«, blaffte Zaman und rückte vom Tisch ab.
»Sie sind hier der Leiter«, sagte Farid. »Es ist Ihre Aufgabe, diese Kinder zu beschützen.«
»Mir sind die Hände gebunden.« »Sie verkaufen Kinder!«, bellte Farid.
»Farid, lass gut sein!«, sagte ich. Zu spät. Schon war mein Freund über Zaman hergefallen, der mitsamt seinem Stuhl nach hinten kippte. Von Farid überwältigt, schlug der Heimleiter verzweifelt um sich und stieß würgende Schreie aus. Mit strampelnden Beinen trat er eine Schublade aus dem Tisch, worauf sich ein Wust fliegender Blätter über den Boden verteilte.
Ich eilte herbei und sah, dass Farid dem kleinen Mann die Kehle zudrückte. Ich packte Farid mit beiden Händen bei den Schultern und versuchte, ihn zurückzuzerren. »Hör auf damit!«, brüllte ich, doch er ignorierte mich. Sein Gesicht war hochrot angelaufen und wutverzerrt. »Ich bring ihn um! Davon hältst du mich nicht ab. Ich bring ihn um!«, zischte er.
»Lass ihn los!«
»Ich bring ihn um!«, wiederholte er, und seine Stimme ließ keinen Zweifel
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