Drachenläufer
Führerhaus hockte eine Hand voll ernst dreinblickender junger Männer mit geschulterten Kalaschnikows. Sie trugen allesamt Barte und schwarze Turbane. Einer von ihnen, ein dunkelhäutiger Mann Anfang zwanzig mit dichten zusammengekniffenen Augenbrauen, ließ eine Peitsche in der Hand rotieren und rhythmisch auf das Seitenblech des Wagens klatschen. Sein irrer Blick blieb plötzlich an mir hängen. Ich hatte mich in meinem ganzen Leben nicht so nackt gefühlt. Dann spie der Talib tabakbraunen Speichel aus und schaute zur Seite. Ich konnte aufatmen. Der Wagen rollte die Jadeh Maywand entlang und zog eine lange Staubwolke hinter sich her.
»Bist du nicht ganz bei Trost?«, zischte Farid. »Was?«
»Gaff diese Leute um Himmels willen nicht so an! Verstehst du mich? Niemals!« »Es war nicht meine Absicht«, entgegnete ich.
»Ihr Freund hat Recht, Aga. Einen tollwütigen Hund zu ärgern wäre weniger riskant«, tönte es plötzlich von hinten. Da saß ein alter barfüßiger Bettler auf den Stufen eines zerschossenen Hauseingangs. Er trug einen zerfetzten chapan und einen Turban, starrend vor Dreck. Das linke Lid hing schlaff über einer leeren Augenhöhle. Mit gichtiger Hand zeigte er in die Richtung, die der rote Pick-up eingeschlagen hatte. »Die machen hier ihre Runde. Sehen sich um und warten darauf, provoziert zu werden. Früher oder später findet sich immer einer, den sie sich vorknöpfen können. Dann haben die Hunde ihren Spaß.
Endlich keine Langeweile mehr, und jeder ruft: Allah-u-akbar! Und wenn ihnen ausnahmsweise einmal niemand querkommt, na, dann schlagen sie einfach wild um sich. Ist doch so, oder?«
»Merk dir das: Ist ein Talib in der Nähe, senk den Blick«, sagte Farid.
»Ihr Freund ist ein guter Ratgeber«, schmeichelte der alte Bettler, der plötzlich rasselnd zu husten anfing und in ein schmieriges Taschentuch spuckte. »Verzeihung, aber hätten Sie vielleicht ein paar Afghani für mich übrig?«, röchelte er.
»Bas. Lass uns gehen«, sagte Farid und zog mich am Arm.
Ich steckte dem Alten 100000 Afghani zu, umgerechnet ungefähr drei Dollar. Als er sich vorbeugte, um das Geld entgegenzunehmen, stieg mir der Gestank saurer Milch und ungewaschener Füße in die Nase, worauf sich mir der Magen umzudrehen drohte. Eilig steckte er das Geld weg und sah sich mit dem einen verbliebenen Auge argwöhnisch um. »Tausend Dank für Ihre Güte, Aga Sahib.«
»Wissen Sie, wo das Waisenhaus in Karteh-Seh ist?«, fragte ich.
»Westlich vom Darulaman-Boulevard. Es ist ganz leicht zu finden«, antwortete er. »Die Kinder sind von hier nach Karteh-Seh umquartiert worden, als das alte Waisenhaus von Raketen getroffen wurde. Mit anderen Worten, man hat sie aus dem Löwenkäfig befreit und dann zu den Tigern geworfen.«
»Danke für die Auskunft, Aga«, sagte ich und wandte mich ab.
»Das war wohl für Sie das erste Mal, nay?«
»Wie bitte?«
»Dass Sie einen Talib gesehen haben.«
Ich blieb ihm die Antwort schuldig. Der Alte nickte und zeigte grinsend ein paar faule, gelbe Zähne. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie in Kabul eingerollt sind. Was für ein freudiger Tag!«, sagte er. »Endlich Frieden! Ha ha, von wegen. Aber wie schon der Dichter sagte: Die Liebe schien grenzenlos, und dann kam der Streit.«
Ich musste schmunzeln. »Den ghazal kenne ich auch. Er ist von Hafis.«
»Allerdings«, antwortete der Alte. »Ich muss es wissen. Ich war Dozent für Literatur an der Universität.«
»Tatsächlich?«
Der Alte steckte die Fäuste unter die Arme. Und hustete. »Von 1958 bis 1996. Mein Fachgebiet war die Literatur von Hafis, Khayyam, Rumi, Beydel, Jami, Saadi. Ich war sogar einmal Gastdozent in Teheran, 1971 war das. Da habe ich eine Vorlesung über den Mystiker Beydel gehalten. Ich weiß noch, alle Zuhörer sind am Ende aufgestanden und haben geklatscht. Ha!« Er schüttelte den Kopf. »Aber Sie haben ja diese jungen Männer in dem Wagen gesehen. Was könnte denen schon am Sufismus gelegen sein?«
»Meine Mutter hat auch an der Universität gelehrt«, sagte ich.
»Und wie ist ihr Name?«
»Sofia Akrami.«
So getrübt das eine Auge auch war, es zeigte sich ein Leuchten darin. »Das Wüstengras lebt fort, mag auch die Frühjahrsblume blühen und verwelken. Ach, wie schön, so erhaben und elegisch.«
»Sie kannten meine Mutter?«, fragte ich und ging vor dem alten Mann in die Hocke.
»Nicht besonders gut, aber, ja, ich habe sie gekannt«, antwortete er. »Manchmal, wenn sich eine
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