Drachenland: Roman (German Edition)
königlichen Familie zu ersetzen?«
»Ich traue ihr nicht, Tolchin. Ich werde keine Zugeständnisse machen, bis es eindeutige Beweise für seinen Landesverrat gibt.«
»Beweise!«, rief Tolchin aus. »Wenn du Evirae so gut kennst, wie du behauptest, dann weißt du auch, dass sie die Beweise finden wird – und wenn sie sie selbst herstellen muss!«
»Ist das die moralische Gesinnung, die sich für eine Königin ziemt?«
»Sie wird nur dem Namen nach Königin sein. Die Familie selbst wird Simbala regieren.«
»Da ist schon wieder einer«, sagte Amsel leise. Er blickte zwischen den roten Blättern eines Yuana-Baums hinunter auf einen Wächter, der dort einherschritt. Es war der fünfte, den er in ebenso vielen Minuten gesehen hatte. Wenn er auf dem Boden geblieben wäre, nachdem er den Palastwachen entkommen war, hätte man ihn wahrscheinlich schon längst wieder festgenommen. Er fragte sich, ob es den beiden Männern gelungen war, die Prinzessin aufzusuchen, aber er wusste auch, dass es keinen Sinn hatte, darüber nachzudenken. Er musste einfach zu Falkenwind oder zu der Frau, die sie Ceria nannten, durchdringen.
Trotz seiner Erschöpfung hatte er in kurzer Zeit eine beachtenswerte Strecke hinter sich gebracht, direkt über die Zweige des Blätterdachs oder indem er sich an Schlingpflanzen entlanghangelte. Manchmal stieß er dabei auf Baumhäuser mit offenen Veranden und Stegen, die wieder zu anderen Bäumen führten.
Aber in der Nähe der Palastanlage standen die Bäume regelrecht Spalier. Immer häufiger musste Amsel gefährliche Sprünge über weite Zwischenräume wagen.
Erschöpft hastete er einige hundert Meter weiter, aber die Abstände zwischen den Bäumen wurden immer größer. Obwohl die oberen Stockwerke der hinteren Palastseite – er nahm an, dass es sich um diese handelte – jetzt deutlich zu sehen waren, wurde ihm klar, dass er das letzte Stück am Boden überwinden musste.
Amsel packte eine lange, blattlose Schlingpflanze und musterte das Gebiet unten. Es gab einige kleinere Bäume, deren Schatten eine gewisse Deckung bieten mochten. Er sah auch ein kleines Gebäude aus Holz, das von zwei Männern bewacht wurde – beide schienen zu schlafen; aus dem Gebäude drangen Geräusche, die von Pferden zu kommen schienen. Westlich davon befand sich eine schmale steinerne Brücke. Wenn es ihm gelang, östlich des Gebäudes vorbeizukommen, konnte er den Fußweg zum Palast erreichen.
Amsel zerrte an der Schlingpflanze. Sie glänzte und war einigermaßen glatt. Gut, dachte er, holte tief Luft und rutschte zwischen den Zweigen hinunter. Doch da sah er etwas völlig Unerwartetes. Eine schöne Frau in einem roten Umhang lief rasch den Weg zum Stall entlang!
»Lady Ceria!«, rief Amsel unwillkürlich, und zu seinem Entsetzen blickte die junge Frau zu ihm hinauf. Sie sah, wie sich die kleine Gestalt auf bedenkliche Weise von einem hohen Baum auf einen niedrigeren Ast hinunterließ und dann in den langen, schmalen Blättern eines Wollseidenbaums untertauchte. Sie lief rasch darauf zu.
In dem kleineren Baum griff Amsel rasch nach einem Ast. Er holte tief Luft und wischte sich die garnartigen Blätter aus dem Gesicht.
Sie hat mich gesehen, dachte er, und sie wird mich gleich finden. Er wusste nicht, ob er sich zu erkennen geben oder davonlaufen sollte. Die Frau konnte ja irgendeine Simbalesin im roten Umhang sein. Aber da war der Palast, und sie hatte aufgeblickt …
»Komm runter von da oben, junger Mann!«
Amsel spähte zwischen den Blättern hervor und sah, dass die Frau, Hände in die Hüften gestemmt, ärgerlich zu ihm hinaufblickte.
»Ich habe es eilig!«, rief sie. »Komm sofort runter, oder ich hole dich!«
Amsel musterte sie. Sie schien genau der Beschreibung des Kindes zu entsprechen. Er versteckte sein Gesicht hinter Blättern und beschloss, es darauf ankommen zu lassen. »Seid Ihr Lady Ceria?«
Die Augen der Rayanerin weiteten sich vor Erstaunen. »Ja!«, rief sie. »Und wer bist du?«
Amsel lächelte. »Endlich!«, murmelte er und kletterte rasch den Baumstamm hinunter.
Ceria sah den weißen Haarschopf zwischen den untersten Ästen auftauchen. Der merkwürdige Akzent des Jungen und das Auftauchen eines »Kindes« in dieser Gegend ergaben plötzlich einen Sinn. Er war gar kein Junge!
Amsel sprang vor ihr auf den Boden.
»Du bist der Spion«, sagte Ceria leise. »Beweg dich nicht.« Sie hatte ein kleines Messer in der Hand.
»Nein!«, rief Amsel. »Es hat ein großes Missverständnis
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