Drachenland: Roman (German Edition)
angekleidet!«, rief sie. »Ist es die Schneiderin? Sie soll mir das Kleid reichen.« Evirae streckte den Arm durch den Türspalt, als sie die Stimme ihres Gemahls vernahm.
»Kiorte!«, rief sie. Die Tür öffnete sich, und Evirae kam herausgelaufen. Sie trug nur einen Unterrock und ein Mieder. Eine Wolke rotbrauner Locken fiel auf ihre zarten Schultern.
Mesor verließ rasch den Raum. Evirae starrte Kiorte erschrocken an. Seine Uniform sah schlimm aus. »Was ist geschehen?«, rief sie.
Kiorte setzte sich auf das Bett, ohne sich um Blut und Schmutz auf seiner Uniform zu kümmern. »Thalen ist getötet worden«, erwiderte er. »Im Kampf von einem achtlosen Nordweldener erschossen.«
Evirae war wie betäubt. Einen schrecklichen Augenblick lang fühlte sie sich direkt verantwortlich, und die Ungeheuerlichkeit dieser Schuld war mehr, als sie ertragen konnte. Bis jetzt war der Krieg etwas Abstraktes für sie gewesen – ein Ereignis, das ihrem Komplott gegen Falkenwind förderlich gewesen war. Sie schauderte, der Hysterie nahe.
Ohne ihr Ränkeschmieden hätte es vielleicht keinen Krieg gegeben, und Thalen wäre noch am Leben. Aber noch während diese Gedanken sie quälten, begann ein anderer Teil ihres Wesens, ein Teil, den sie nie ganz unter Kontrolle hatte, nach Wegen zu sinnen, wie sie diese Tragödie zu ihrem Vorteil benutzen könnte. Kiorte würde jetzt empfänglich sein für ihre Beschuldigungen gegen Falkenwind. Sie spürte Zorn über ihre eigene Herzlosigkeit in sich aufwallen, aber sie war unfähig, umzudenken. Der Krieg war nun einmal da, sagte sie sich, und sicher war es nicht ihre Schuld, denn Falkenwind war unfähig zu regieren. Was sie auch getan hatte – von Falkenwinds Unfähigkeit war sie überzeugt.
Ihr kam zum Bewusstsein, dass Kiorte sprach; seine Stimme kam zu ihr wie aus weiter Ferne. »Falkenwind muss seines Amtes enthoben werden«, sagte er. »Er weiß nicht, wie man eine Armee führt. So etwas wie das mit Thalen darf nicht noch einmal geschehen.« Er streckte sich auf der seidenen Bettdecke aus, und Tränen stiegen ihm in die zornigen grauen Augen.
Evirae ging zu ihm und fragte sich dabei, warum Kiortes Entscheidung sie nicht mit Befriedigung erfüllte.
»Beruhige dich, mein Gemahl«, murmelte sie. »Du musst wissen, dass heute Abend ein Treffen der königlichen Familie stattfindet. Nach diesem Treffen wird Falkenwind Simbala nicht mehr regieren.«
Wenn Kiorte seine Gemahlin gehört hatte, so ließ er sich das nicht anmerken. Seine Augen waren geschlossen. Sie zog ihm behutsam die Stiefel aus und runzelte die Stirn, als sie den Schmutz und den Lehm berührte. Als sie sich neben ihm aufs Bett setzte, um sein Hemd zu öffnen, hob er eine Hand und streichelte über ihren Rücken. Sie blickte ihn an. In diesem Augenblick war ihr Gesicht wie verwandelt, ein Gesicht, das viele überrascht hätte. In diesem Augenblick war die Liebe, die sie erfüllte, frei von den Ketten des Ehrgeizes. Die Verschwörungen und Auseinandersetzungen waren vergessen – in diesem Augenblick.
28
Das Geräusch schlagender Flügel und ein schwacher Geruch von verbrennendem Tansel weckten Amsel. Er hustete, blinzelte verschlafen und blickte in den Nebel hinaus. Aus irgendeinem Grund lebte er noch, und dafür war er dankbar. Er erhob sich vorsichtig und trat ein paar Schritte vor. Dabei fiel ihm wieder ein, was geschehen war. Der schwarze Frostdrache hatte ihn hierhergeschleppt! Er sah sich rasch um, und sein Blick fiel auf eine nasskalte alte Höhle. Die kahlen Wände erstreckten sich etwa fünfzig Fuß hoch zu einer großen unregelmäßigen Öffnung, die den Nebel umrahmte. Auf dem Boden lagen die Skelette von Bergziegen und anderen Tieren. Amsel spähte vorsichtig über den Rand der Öffnung.
Unter ihm lagen die durchlöcherten Klippen mit all den Drachenhöhlen. Es war nicht sehr steil, aber der Abstieg und das Ziel würden auch dem mutigsten Abenteurer Furcht einjagen. Amsel blickte nach oben. Durch die Nebelschwaden hindurch sah er die Spitze des hohen Gipfels. Nach der Lage der Höhle, dachte Amsel, könnte dies die Höhle des Riesenfrostdrachen selbst sein!
Er schluckte und blickte wieder nach unten, vorbei an den Klippen. Weit unter sich sah er die flachen Felsen und den dahinjagenden Fluss. Durch Wolken von Dampf erhaschte er einen Blick auf die Trümmer des Windschiffs. Vermutlich werde ich auch zu einer Legende werden, dachte er. Die Legende vom Dummkopf, der die Frostdrachen fand, aber nicht
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