Drachenland: Roman (German Edition)
Redekunst hatte Tamberly in Aufruhr gestürzt, und jeder Unglücksfall und jede Verletzung der vergangenen Monate wurden jetzt den Sim angelastet. Der Wegwächter wusste einiges über die Simbalesen, und es war ihm klar, dass die Leute hier weder den Windschiffen noch der militärischen Strategie der Sim gewachsen waren. Aber die Fandoraner hatten ihm eine Heimat gegeben, und wenn sie beschlossen, einen Krieg anzufangen, würde er helfen, so gut er konnte. Im Grunde seines Herzens jedoch hoffte er, dass die kühleren Köpfe sich durchsetzen würden.
Amsel war auf dem Weg zu den »Treppen des Sommers«. Er nahm eine gefährliche Abkürzung. Er sprang von Felsrand zu Granitgipfel, über Abgründe, die sicher mindestens siebenhundert Fuß tief waren. Er bewegte sich behände an Simsen entlang, die kaum sechs Zoll breit waren. Obwohl er nicht mehr so schnell wie früher war, kam er doch gut voran. Ein Gewitterregen zog herauf, und er wollte nicht von ihm überrascht werden. Außerdem lag ihm daran, den Ort vor den Ältesten zu erreichen, damit er sich einen Platz aussuchen konnte, wo er sie hören, aber nicht gesehen werden konnte. Er machte sich Sorgen, denn es war drei Tage her, seit er von der Versammlung erfahren hatte, und seitdem hatte sich in Tamberly bestimmt viel ereignet, was er aus der Ferne nicht erkennen konnte. Er sprang von einem Vorsprung und landete auf dem dünnen Rand eines Kamins, der die zu den »Treppen« parallele Felswand spaltete. Er stieg den Kamin hinunter, Rücken gegen die eine Wand, Füße gegen die andere, und kam schließlich zu einer natürlichen Nische mit einem steinernen Vorsprung, von dem aus ein Teil des Amphitheaters zu überblicken war. Amsel ließ sich dort nieder, sein Notizbuch und den Federkiel in der Hand, und wartete.
Viele der Stadtleute waren den Ältesten zu den »Treppen des Sommers« gefolgt, doch es war nur den Ältesten gestattet, die »Treppen« zu dem auf natürliche Weise entstandenen Amphitheater hinaufzusteigen, wo die Abstimmung stattfinden sollte. Jondalrun kam als Letzter. Bevor er mit dem Aufstieg begann, wandte er sich den Männern und Frauen am Fuß der »Treppen« zu. »Bleibt hier unten«, ermahnte er sie. »Ihr werdet das Ergebnis unserer Sitzung früh genug erfahren.«
»Was könnte es schaden, wenn wir zuhören?«, fragte ein hochgewachsener Mann. »Wir würden die Versammlung nicht stören.«
»Es geht nicht«, sagte Jondalrun entschieden. »Wir müssen uns an das Gesetz halten.« Damit wandte er sich um und begann, langsam die Stufen hinaufzusteigen, um sich den anderen Ältesten anzuschließen.
Es waren keine Aristokraten, diese Ältesten von Fandora. Einige von ihnen umklammerten immer noch die Sicheln und Hacken, die sie benutzt hatten, um die Felsen hinaufzuklettern. Die meisten trugen die einfache Kleidung eines Bauern. Doch ihre Haltung war die von Männern, die wussten, dass ihre Stimme sich auf das Leben ihrer Landsleute auswirken würde.
Gemäß den Satzungen hatten die Ältesten schon vorher aus ihren Reihen einen Vorsitzenden für die Ratsversammlung gewählt. Die Wahl war auf Pennel gefallen. Er stand auf einem niedrigen Steinsockel im Zentrum des Amphitheaters und blickte auf die von Fackeln beleuchtete Versammlung. Er sah angespannte Gesichter, verbitterte Gesichter. Pennel rief den Namen des Ältesten auf, der die Versammlung beantragt hatte.
»Das Wort hat Jondalrun, Ältester in Tamberly.«
Johans Vater stand vor der Versammlung und hob voller Leidenschaft und Zorn seine Stimme: »Es hat Morde gegeben! Wir leben in einem Belagerungszustand, fürchten um das Leben unserer Kinder und unser eigenes. Wir suchen den Himmel ab nach den heimtückischen Windschiffen, und wir trauen uns nachts nicht mehr auf die Straße. Wir haben hart gekämpft, um dieses Land aufzubauen, und wir haben viel ertragen, um hierzubleiben, zu viel, um uns jetzt bedrohen zu lassen. Dies ist entweder der Beginn eines Großangriffs von Wahnsinnigen oder dem zufälligen Blutdurst von Zauberern zuzuschreiben. Ich verlange Gerechtigkeit! Ich verlange Krieg!«
Jondalrun kehrte zu seinem Platz zurück. Einige Augenblicke war es still. Keiner wagte infrage zu stellen, dass die für Johans Tod Verantwortlichen ihre gerechte Strafe verdienten. Aber es gab Fragen, Bedenken, die nicht unausgesprochen bleiben konnten. Pennel erteilte einem Ältesten aus Gordain das Wort, der über den Absturz des simbalesischen Windschiffs berichtete. Dann betrat Lagow, der
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