Drachenland: Roman (German Edition)
plötzlich gut genug. Mag sein, wie es will – unsere Leute haben sich nie beklagt. Wir haben es nicht nötig, mit Windschiffen oder Palästen zu protzen. Nordwelden kann selbst für sich sorgen. Aber was gestern geschehen ist, geht über all das hinaus. Jetzt werden wir fordern, was uns als rechtmäßigen Bürgern Simbalas zusteht.
Lady Morgengrau hatte ihm von der Prozession erzählt. Sie hatte nicht die Absicht dabei zu sein, aber Willen war auf dem Weg dorthin. Gab es einen günstigeren Zeitpunkt, König Falkenwind über das Geschehene zu informieren?
Er war nervös; er ging seine Worte im Geist durch, immer wieder. Er war erst ein Mal in seinem Leben in Oberwald gewesen, als kleines Kind, und konnte sich nur noch verworren an prunkvolle Gebäude, vornehme Gestalten und an die riesigen Baumschlösser erinnern – sicher wunderschön, aber er lebte viel lieber in Nordwelden: steile bewaldete Berge und von eisigen Bächen durchschnittene Täler, Kiefernduft und das Geräusch des Windes in den mit Prasselbeerblüten bedeckten Wiesen. Lieber die kleinste Holzhütte in Nordwelden als den schönsten Palast in Oberwald. Es war seine Heimat, und er war nicht gewillt, einen Angriff auf seine Heimat ungerächt hinzunehmen.
Seine Hand griff wieder nach dem Beutel an seiner Seite; diesmal öffnete er ihn und entnahm ihm mehrere scharfkantige Teilchen strahlend bunter Muscheln. Er hielt sie behutsam und betrachtete sie, bis Tränen die Farben vor seinen Augen ineinanderlaufen ließen. Diese Teilchen hatten die Finger der kleinen Kia umklammert gehalten, als sein Sohn sie zerschmettert und mit gebrochenen Gliedern am Strand entdeckte. Man hatte sie seit Wochen vermisst; Suchtrupps hatten das Gebiet durchkämmt, doch nur durch Zufall war Willens Sohn auf einem Streifzug auf sie gestoßen. Offensichtlich hatte sie Muscheln gesammelt, als die Barbaren aus Fandora sie angriffen. In der Nähe hatte sein Sohn noch mehr Schalenteile gefunden, zweifellos die Überreste eines großen Weichtiers, das das Meer an Land gespült hatte.
Natürlich waren es die Fandoraner gewesen, die sie überfallen hatten. Wer sonst? Im Ödland an der See gab es keine Lebewesen, und es gab keinen Grund auf der Welt für das Südland oder Bundura, sie anzugreifen. Simbala lebte in Frieden mit seinen Nachbarn.
Gerade erst jedoch war im Nebel, der über der Meerenge lag, ein kleines Fischerboot aus Fandora gesichtet worden, weit entfernt von der Küste. Willen legte die Muscheln zurück in den Beutel. Die Fandoraner waren Barbaren – das wusste man. Jetzt war es erwiesen, dass sie auch Mörder waren. Er hatte Kia gekannt und geliebt, als wäre sie seine eigene Tochter gewesen. Die Fandoraner durften nicht ungestraft davonkommen. Er würde die Leute aus Oberwald um Unterstützung bitten.
Vor ihm markierte eine niedrige Steinmauer den Rand Oberwalds. Willen sprang mit einem Satz hinüber und eilte den Weg hinunter. Die Geräusche fröhlichen Treibens waren jetzt sehr nahe.
Von den breiten Stufen des riesigen Baumes, in den der Palast hineingebaut war, begann die königliche Familie über die in weitem Bogen verlaufende, »Monarchenmarsch« genannte Straße ihre Prozession zum Podium von Beron. Die die Straßen säumenden Menschen schlossen sich dem Marsch fröhlich an, und bald schien praktisch die ganze Stadt der zwanglosen Parade zu folgen.
In der vordersten Reihe gingen Falkenwind und Ephrion mit General Vora und Ceria. Ceria warf einen Blick über die Schulter auf die gewaltige, fröhliche Menschenmenge hinter ihnen. Dann blickte sie Falkenwind an und sagte lachend: »Dies droht außer Kontrolle zu geraten!«
»Hör ihnen zu, Falkenwind«, fügte Ephrion hinzu. »Da soll noch jemand behaupten, du wärest nicht beliebt!«
»Wenn du es sagst, König Ephrion«, sagte Falkenwind, aber der General an seiner anderen Seite entgegnete: »Am ersten sonnigen Tag nach einer Woche Regen würde ich mich jeder Parade anschließen, selbst wenn ein Drache sie anführte!«
Hinter ihnen gingen in lockerer Ordnung die übrigen Mitglieder der königlichen Familie: Lady Eselle und General a. D. Jibron waren die Ersten. Eselle, Ephrions jüngere Schwester und Mutter der Prinzessin Evirae, glänzte in einem Gewand aus Spitze und Goldlamé. Ihre Schönheit war vom Alter beeinträchtigt, aber immer noch beachtlich. Sie flüsterte ihrem Ehemann Jibron mit durchdringender Stimme zu: »Sieh nur, wie zwanglos Falkenwind und Ceria miteinander sprechen. Sicher nicht
Weitere Kostenlose Bücher