Drachenland: Roman (German Edition)
Es war für die Kuln unmöglich, ihn von unten zu bewegen, falls sie die Taniumflut überlebt hatten. Warum also beschleunigte er jetzt seine Schritte, warum wollte er sich plötzlich unbedingt vergewissern, dass der Schacht immer noch zugesperrt war?
Er kam um die letzte Biegung und stand vor dem Eingang zum Schacht. Dort hingen noch die verfaulenden Überreste der Winde, das Seil schon vor langer Zeit verfallen, das Holzrad und die Kurbel zerbrochen.
Daneben lag der Felsblock, der den Schacht bedeckt hatte – der Schacht war offen.
Vernachlässigung und durchgesickertes Regenwasser hatten einen Teil des Schachteingangs in einem Erdrutsch abgleiten lassen, und die Erde hatte den schweren Felsblock zur Seite geschoben wie ein Kinderspielzeug. Der Schlamm war getrocknet und zusammengeschrumpft, und zwischen Fels und Schlamm lag ein klaffender Halbmond. Der Schacht war offen. Im Schlamm waren Spuren.
Falkenwind zwang sich, einen Schritt vorzutreten. Er hob die Fackel und spähte in den Schacht hinunter. Er sah nichts – nicht einmal den Widerschein des Lichts auf der Taniumwand. Offensichtlich war das Tanium im Lauf der Jahre langsam in die Höhlen gesickert.
Er untersuchte die Spuren und atmete auf. Es war unwahrscheinlich, dass etwas den Schacht verlassen hatte, ohne Spuren zu hinterlassen, und die einzigen Spuren waren die eines einzelnen Höhlenwolfes. Nichts deutete darauf hin, dass auch ein Kuln den Schacht verlassen hatte. Er blickte sich um. Der Tunnel hinter ihm war leer. Falkenwind machte sich auf den Rückweg. Irgendwo in den unzähligen Tunneln und Minen trieb ein einzelner Höhlenwolf sein Unwesen. Es war unerfreulich – aber es hätte schlimmer sein können. Er schauderte bei der Vorstellung, um wie viel schlimmer es hätte sein können. Dies war nicht die Antwort auf die Frage nach dem ermordeten Kind, aber er würde natürlich anordnen, dass der Schacht wieder versperrt würde.
Die Gefahren der Anwesenheit eines Höhlenwolfes begrüßte er beinahe. Im Gegensatz zu Evirae war das Tier das, was es zu sein schien; es gab keine Fragen nach tatsächlichen Motiven, keine komplizierten Pläne aufzudecken. Ja, die Einfachheit der Minen fehlte ihm.
Er erinnerte sich an den Tag, da König Ephrion ihm für seine Tapferkeit in den Minen einen Orden überreicht hatte. Es war ein Augenblick stillen Triumphs gewesen, mit Ceria an seiner Seite. Damals hatte es keine Verstellung gegeben, keine Sorgen. Nur er selbst und seine Freunde waren ihm wichtig gewesen. Jetzt spürte er das Gewicht Oberwalds, und seine Verantwortung war viel größer, als er sich vorgestellt hatte. Das neue Problem ging über die Staatspolitik Oberwalds hinaus. Der mögliche Mord an dem Mädchen war ein Angriff, der sofortige Vergeltungsmaßnahmen erforderte – falls es überhaupt ein Angriff gewesen war. Aber das einzige Beweisstück war das blutbeschmierte Kleid des Kindes. Während er ans Tageslicht zurückkehrte, ließ Falkenwind sich allerlei Erklärungen durch den Kopf gehen. Keine ergab einen Sinn. Es gab in Nordwelden kein Tier, das ein Kind am Strand angreifen würde. Es gab auch keinen Grund für die Fandoraner, ein so entsetzliches Verbrechen zu begehen. Obwohl er noch nie einen Fandoraner kennengelernt hatte, waren sie immer als friedliebendes Volk bekannt gewesen. Er dachte an seine Reisen, an die Länder, die er gesehen hatte, und an ihre Bewohner. Er sprach nie von diesen Reisen, nicht einmal mit Ceria. Sie hatten zu den aufregendsten Erfahrungen seines Lebens gehört. Die Dinge, die er kennengelernt hatte, veränderten seine Träume für die Zukunft Oberwalds. Keine seiner Erfahrungen jedoch bot eine Erklärung an für den Mord an der Tochter eines Mannes aus Nordwelden.
Heller Sonnenschein fiel auf sein Gesicht, als er aus den Minen auftauchte. Er band sein Pferd von einem Baum in der Nähe los und stellte mit Überraschung fest, dass er in der letzten Zeit in Gedanken den Palast immer mehr als sein Zuhause betrachtete.
16
Weit im Norden von Fandora und Simbala, jenseits des Nordmeers, lag ein Land, das aus schroffen Gipfeln und Monolithen bestand, aus mondähnlichen Ebenen und aus Bergen, die so steil und eisig waren, dass nur wenige Lebewesen sich dort hinwagten. Hier lebten Kreaturen, riesige Kreaturen, die zu den Dimensionen des Landes passten – und die hier zugrunde gingen.
Es war das Ende des Zeitalters der Drachen.
Dieses Zeitalter hatte lange gedauert, so lange, dass während seiner Dauer
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