Drachenlanze - Die Erben der Stimme
es nicht unmöglich, aber
auch nicht wahrscheinlich ist. Vor allem hätte so einen Vorfall
wahrscheinlich nur ein mächtiger Zauberer überlebt. In den
letzten paar Wochen bin ich von einem Kundigen zum anderen
gelaufen, in der Hoffnung, ich würde einen finden, der mir
bestätigt: >Ja, so war es wahrscheinliche«
Solostaran schob seinen Lederstuhl von dem massiven Tisch
zurück und drehte sich zu den großen Fenstern um. »Es geht
nicht, Flint. Keiner, der etwas von Zauberei versteht, würde das
behaupten.« Trotz der drückenden Hitze da draußen blieb das
Gebäude aus Marmor und Quarz innen kühl. Flint fröstelte.
»Was willst du tun, Stimme?«
»Was kann ich tun?« fragte Solostaran zurück. Seine
verärgerte Bewegung ließ seine Staatsrobe rascheln. »Ich
stecke in einer Situation, in der der beste Augenzeuge – und
zwar jemand, dem ich absolut vertraue – sagt, Tanis habe nicht
schlecht gezielt. Obwohl das die einfachste Erklärung wäre.
Die anderen Erklärungen, die mein Mündel entlasten könnten,
werden von Elfen, die es wissen sollten, für schlechthin
unmöglich gehalten. Damit bleibt mir nur eine
Schlußfolgerung: Was Xenoth passiert ist, konnte nicht
passieren. Aber offensichtlich ist es trotzdem geschehen.«
Die Stimme lief vor der Fensterwand auf und ab. »Mein
Hofstaat meint, ich müßte >etwas tun<, aber das, was sie
wollen, ist für mich moralisch unvertretbar. Ich kann Tanthalas
nicht einfach verbannen, weil ein paar bornierten Mitgliedern
des Hofes seine Anwesenheit nicht paßt und sie einen Weg
gefunden haben, ihn loszuwerden. Aber dennoch…« Er kehrte
zu seinem Stuhl zurück und ließ sich darauf fallen. »Irgendwie
komme ich immer auf dieses >Aber dennoch< zurück…«
Flint wollte etwas erwidern, wußte aber nicht, was. Er
konnte nur versprechen, daß er darüber nachdenken und die
Ohren offenhalten würde, wie die Elfen über diese Sache
dachten.
Als Flint kurz darauf aus dem Sonnenturm kam, um dann
langsam über die blau und weiß gepflasterten Straßen zu
seinem Laden zu spazieren, wartete auf den Stufen des Turms
eine vertraute Gestalt. Ein Grüppchen Kinder hatte sich
bewundernd um Windsbraut versammelt, die ihre graue
Schnauze hob und begeistert wieherte, als Flint näher kam. Ein
zerfasertes Stück Seil hing von ihrem Geschirr herunter – sein
jüngster Versuch, ihr die Flügel zu stutzen.
»Du Türknopf von einem Maultier!« meuterte der Zwerg.
»Nur ein Kender könnte noch lästiger sein.« Er schnappte sich
das Ende des durchgekauten Stricks und zerrte das verliebte
Tier durch die Straßen.
Kapitel 6
Sommertraum
Das brütendheiße Wetter, das für Qualinost so ungewöhnlich
war, brachte selbst ruhigen Schläfern Alpträume. Und Miral
war da keine Ausnahme.
Wieder war er in der Höhle. Es tropfte von den Stalaktiten an
der Decke, die von innen heraus leuchteten
– die einzige
Beleuchtung der Höhle. Aus dem feuchten Boden waren
Stalagmiten gewachsen. Auf der schlüpfrigen Oberfläche
konnte er kaum das Gleichgewicht halten.
Dann sah er nach unten und merkte, daß er die typischen
dünnen Ledersandalen der Elfenkinder trug. Sein Spielanzug
war von seinen vielen Stürzen dreckig und zerrissen.
Miral wußte nicht, wie lange er schon in der Höhle war. Es
kam ihm vor, als wäre es tagelang, aber Zeit war für kleine
Kinder etwas Fließendes. Er war nicht hungrig. Während er
durch die Höhlen streifte und Tunnel um Tunnel nach der
Gegenwart absuchte, die ihn rief, fand er zufällig immer dann
etwas zu essen, wenn ihn der Hunger plagte. Wie ein Kind
hinterfragte er diese Funde nicht. Er aß einfach, bis er genug
hatte, und ging dann weiter.
Er hatte nicht richtig Angst. Wenn er müde war, fand er an
der Wand ein warmes Lager mit Daunenkissen und
zurückgeschlagener Flanelldecke. Und wenn er aufwachte,
erwartete ihn aufgebackenes Quith-Pa mit Zimt und Zucker.
Klein-Miral hatte diese Gaben angenommen, ohne je zu
fragen, wo sie herkamen. Wenn man ihn gefragt hätte, hätte er
gesagt, daß sie bestimmt von seiner Mama geschickt worden
waren, obwohl er die schon eine schiere Ewigkeit nicht mehr
gesehen hatte
– seit sie ihn gerufen hatte: »Komm sofort
hierher, kleiner Elf«, damals, am Eingang zur Höhle.
Er hatte keine Ahnung mehr, wo der Höhleneingang war. Er
hatte keine Ahnung, wo Qualinost oder Mama waren.
Die Gegenwart rief ganz tief aus der Höhle. Der Ruf jedoch
wurde von einem tosenden Summen begleitet, das den kleinen
Miral ganz durcheinander brachte.
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