Drachenlanze - Die Erben der Stimme
Seiten her schützten, lag im
Süden ein bewaldeter Hang, der zu einem Grat aus
malvenfarbenem Granit anstieg. Auf der gegenüberliegenden
Seite fiel der Grat in einer schroffen Klippe tausend Fuß tief
ab. Tanis überredete Flint zu dem Weg, der nicht allzu steil
war, indem er ihm versicherte, daß man von oben einen
fabelhaften Ausblick auf die Berge von Thorbardin hätte, die
alte Heimat von Flints Volk.
»Ein bißchen Bewegung kann einem Zwerg nie schaden«,
erwiderte Flint da und ging voraus. Deshalb war er der erste,
der jenseits eines wogenden, grünen Bäumemeers die scharf
gezackten Berge von Thorbardin erblickte, die fast wie dunkle
Segelschiffe am Horizont aussahen.
Er fand ein bequemes Plätzchen am Fuß eines Baums, wo er
mehrere Stunden damit verbrachte, die Intarsien in die
Medaille einzusetzen, und beinahe damit fertig wurde. Tanis
und Eld Ailea gingen inzwischen spazieren, unterhielten sich
und sammelten Kräuter für die Duftöle und Tränke der
Hebamme.
Einige Stunden später – die Dämmerung kroch bereits über
die Stadt
– ging Flint allein durch den Espenhain und die
Obstbäume zu seinem Laden. Tanis begleitete die Hebamme
nach Hause. Flints Haus war natürlich dunkel. Wegen der
Sommerhitze und weil bei diesem Teil der Arbeit an der
Medaille das Material kalt sein mußte, brannte schon seit
Tagen kein Feuer mehr in der Esse.
Die Blüten der Winden an der Tür hatten sich angesichts der
Dämmerung schon fest geschlossen, doch einer der jungen
Rosenbüsche, die Flint neben die Veranda gepflanzt hatte,
begann gerade zu blühen. Flint pflückte eine der blaßgelben
Blüten und atmete ihren Duft ein. Dann seufzte er. Es war nicht
gut, wenn man die kleinen Freuden des Lebens vergaß.
Abgesehen von dem Zwischenfall mit Lord Tyresian war es ein
schöner Tag gewesen.
Vielleicht war heute Abend ein Krug Bier angebracht – für
Flint die schönste der kleinen Freuden des Lebens. Mit diesem
Gedanken im Kopf öffnete er die Haustür und wollte eintreten,
wobei er die Rose in seinen Fingern drehte.
»Autsch!« sagte Flint auf einmal und ließ die Rose fallen. Er
hatte sich an einem Dorn gepiekst und steckte den Finger in
den Mund, um an dem Stich zu saugen. »So viel also zu den
kleinen Freuden«, schmollte er, den verwundeten Finger noch
im Mund. Dann bückte er sich, um die Rose aufzuheben,
diesmal aber auf die Dornen zu achten.
Als er sich gerade wieder aufrichten und hineingehen wollte,
fiel ihm etwas auf. Es war ein dünner, schwarzer Faden, der
etwa einen Schritt weit von der Tür entfernt im Raum lag. Da
Flint normalerweise auf einen sauberen
– wenn auch nicht
aufgeräumten – Laden Wert legte, griff er nach dem Faden, um
ihn aufzuheben.
Der Faden schien irgendwo festzuhängen.
»Zum Kuckuck!« schimpfte er und zog fester.
Plötzlich klickte etwas leise, und aus purem
Überlebensinstinkt warf sich Flint mit dem Gesicht nach unten
auf den Boden. Noch im Fallen sah er etwas Helles durch den
Raum zischen. Es raste über seinen Kopf hinweg und blieb
deutlich hörbar in der Holztür stecken.
Flint schluckte. Er zwang sich, herumzurollen und – immer
noch liegend
– die Tür hinter sich zu untersuchen. Tief im
Eichenholz, genau auf Brusthöhe eines stehenden Zwergs,
steckte ein Dolch mit Ledergriff.
»Reorx!« flüsterte Flint. Vorsichtig erhob er sich auf die
Beine, wobei er auf jedes plötzliche Geräusch achtete, das
vielleicht einen zweiten Angriff ankündigte. Seine Knie
zitterten, obwohl er ihnen befohlen hatte, das zu lassen. Er griff
nach dem Dolch und zog ihn aus der Tür. Seine Spitze glänzte
bösartig im schwächer werdenden Tageslicht. Wenn er in den
Laden gekommen und mit dem Stiefel auf den Faden getreten
wäre, wäre der Dolch nicht in die Tür, sondern in Flints Herz
gedrungen.
Warum sollte ihn jemand umbringen wollen?
Flint drehte sich um und wollte über den Faden in seinen
Laden gehen, doch genau in dem Moment gab es ein leises
Schnappen, das den Zwerg an einen einrastenden Mechanismus
erinnerte.
Bevor er auch nur aufschreien konnte, sauste ein weiterer
Dolch durch die Luft direkt auf den Zwerg zu.
»Flint, du alter Türknopf«, sagte er heiser und taumelte
rückwärts gegen die Tür, wobei er das Messer umklammerte,
das sein blaßblaues Hemd an der Schulter durchbohrt hatte.
Blut sickerte ihm durch die Finger und befleckte den Stoff.
»Das hättest du dir doch denken können…«
Er sackte gegen die Tür und rutschte stöhnend auf den
Boden. »Du
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