Drachenlanze - Die Erben der Stimme
stopfte Gilthanas sich
den Saum der Robe in den Gürtel, um leichter klettern zu
können. Dadurch konnte Tanis jedoch nicht so schnell von dem
Vorsprung verschwinden, der immer mehr nachgab. Nervös
wartete Tanis, bis Gilthanas über Kopfhöhe des Halbelfen war.
Dann folgte er ihm, wobei er sich mit Händen und Füßen an
denselben Stellen festhielt wie sein Cousin.
Was in der nächtlichen Finsternis hoffnungslos gewirkt
hatte, erwies sich bei Tageslicht als anstrengend, aber durchaus
zu schaffen.
Eine halbe Stunde später half Gilthanas Tanis über den Rand
des Abgrunds. Dabei löste sich ein größerer Felsen, der mit
einem knirschenden Geräusch über den Rand rollte und auf den
Vorsprung prallte, auf dem die beiden die Nacht verbracht
hatten. Das Felsstück knackte, senkte sich dann weiter und
brach allmählich von der Klippe ab. Durch die klare Luft
sauste es nach unten in den Fluß.
In der Ferne schwollen die Trommeln ein letztes Mal an, um
dann zu verstummen.
»Das Melethka-Nara hat angefangen«, sagte Gilthanas.
»Porthios ist in dem Raum unter dem Palast. Jetzt beginnt das
Verhör. Ich habe drei Stunden Zeit, bis ich im Gang zwischen
der unterirdischen Kammer und dem Turm sein muß.« Aber
immer noch stand Gilthanas schweigend da und blickte nach
Westen. Tanis wußte, daß er in Gedanken bei seinem Bruder in
der Kammer war.
»Gilthanas«, sagte Tanis. »Hast du das Gesicht des
Angreifers gesehen?«
Der Elf riß seine Aufmerksamkeit von Qualinost los und sah
Tanis an. Dann schüttelte er den Kopf und machte sich zu dem
Pfad an der Klippe auf. »Es war dunkel. Er hatte eine Kapuze.
Hast du ihn gesehen?«
Tanis schüttelte den Kopf und erklärte, was zwischen seiner
Flucht aus dem Palast und seinem Sturz von der Klippe
geschehen war. Er lenkte Gilthanas von seinem Weg zum Pfad
ab, indem er erst zu der Felsspalte zurückkehrte, in der Flint
verschwunden war. Tanis rief nach dem Zwerg und warf
Steinchen in die enge Öffnung, um festzustellen, wie tief sein
Freund gefallen sein mochte. Es kam keine Antwort, und Tanis
war zu groß für das Loch.
»Wir müssen uns beeilen«, drängte Gilthanas.
Tanis zögerte, weil er nicht sicher war, ob er Flint verlassen
durfte. Gilthanas griff schnell zu und zog Tanis das Schwert
aus der Scheide. Der Halbelf kam gar nicht auf die Idee, seinen
Cousin daran zu hindern, dem er doch vertraute – doch dann
sah sich Tanis plötzlich seiner eigenen Klinge gegenüber. Der
Anhänger seiner Mutter glänzte hell im Griff. Die Waldvögel
zwitscherten weiter um die beiden herum, als wäre nichts
geschehen.
»Was tust du?« flüsterte Tanis.
»Du bist mein Gefangener«, sagte Gilthanas förmlich. »Du
hast eine Anordnung der Stimme mißachtet. Als Mitglied der
Palastgarde ist es meine heilige Pflicht, dich festzunehmen und
zur Verurteilung nach Qualinost zu bringen.«
Tanis blickte wieder auf das Schwert, das Flint für ihn
gemacht hatte, dann zu Gilthanas. Die ernste Miene seines
Cousins erstickte jeden Protest im Keim. Tanis schätzte seine
Lage ab. Er war größer und stärker als sein zierlicher Cousin,
und er hatte ein Messer. Tanis wußte, daß er Gilthanas
überwältigen konnte, selbst wenn der das Schwert des
Halbelfen hatte.
Aber was würde er dann tun? Gilthanas fesseln und
unbewacht hier lassen? So ein Vorhaben wäre vielleicht näher
an Qualinost akzeptabel, wo mehr Leute waren, aber das
Gebiet um den Kentommenai-Kath war einsam. Widerstrebend
und mit dem stillen Gelöbnis, später zurückzukommen, ließ
sich Tanis von Gilthanas von der Spalte wegführen.
* * *
Das Loch war ein Luftschacht, entschied Flint. Er konnte
etwa fünfundzwanzig Fuß direkt nach oben sehen. Möglichst
ohne seine verletzte Schulter zu belasten, schob der Zwerg
seinen dicken Körper durch die Öffnung und in den Schacht,
der etwa so breit war wie ein Faß Bier – ein Gedanke, der
Durst machte und den Flint sogleich verdrängte. Er stand auf
einer Schicht aus Erde und alten Pinienzapfen. An der Wand
lag ein vertrocknetes Skelett von einem etwa waschbärgroßen
Tier. Flint versuchte, nicht an das Tier zu denken, das hier
unten verendet war, wenn auch schon vor Jahren.
Oben sah der Zwerg Licht, und darüber wiegten sich
Fichtenzweige. Er suchte nach Halt für die Hände, aber
vergeblich. Der Schacht wäre breit genug gewesen, um
hochzukommen, indem er sich auf der einen Seite mit den
Schultern, auf der anderen mit den Füßen abstützte, aber seine
Schulter war zu schwach. Bei jedem
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