Drachenlied
offene Meer hinauskommen sollten.
»Und sieh doch!«, rief Elgion. »Da gähnt ein Riesenloch in der Felswand. Das könnte ein Höhleneingang sein. Alemi, gehen wir doch an Land!«
»Nur wenn du zu Fuß heimwandern oder auf die nächste Flut warten willst!«
»Alemi - das ist Musik! Da bläst jemand die Rohrflöte!«
Einen Moment lang huschte eine tiefe Trauer über Alemis Züge, die dem Blick des Harfners nicht entging. Und mit einem Mal begriff er.
»Deine Schwester - das vermisste Mädchen! Sie schrieb die Lieder. Sie gab den Kindern Unterricht, nicht jener obskure Pflegesohn, der noch vor meiner Ankunft verschwand.«
»Menolly kann die Rohrflöte nicht spielen, Elgion. Sie
zerschnitt sich beim Ausnehmen von Stachelschwänzen die linke Hand und ist seitdem nicht mehr fähig, die Finger zu bewegen.«
Elgion ließ sich zurücksinken und lauschte den klaren Flö- tentönen. Es musste eine Doppel- oder Mehrfachpfeife sein. Und um die zu spielen, brauchte man unbedingt beide Hände. Die Musik schwieg, und der Wind, der nun aufkam, als sie den Schutz der Felsen verließen, trug die Melodie fort.
»Aber es stimmt, dass Menolly die Kinder unterrichtet hat?«
Alemi zögerte und nickte dann. »Yanus hielt es für eine Schande, dass in der Halbkreis-Bucht ein Mädchen den Harfner ersetzen musste.«
»Eine Schande?« Wieder einmal verblüffte Elgion die Engstirnigkeit des Fischer-Barons. »Obwohl sie ihre Sache so gut machte? Obwohl sie eigene Musikstücke komponierte?«
»Es hat alles keinen Zweck, Elgion. Sie kann nicht mehr spielen. Sie mochte abends nicht einmal mehr singen, sondern verließ den Saal, sobald sie den Klang deiner Gitarre hörte.«
Also hatte ich richtig vermutet, dachte Elgion. Jenes hochgewachsene, schmale Mädchen war in der Tat Menolly.
»Wenn sie lebt, hat sie es schöner hier draußen. Wenn nicht...« Alemi sprach den Satz nicht zu Ende.
Gedrückt und schweigsam segelten sie zurück; die Drachensteine versanken im violetten Dunst, und die beiden Männer vermieden es, einander anzusehen.
Jetzt begriff Elgion so manches, was ihn im Zusammenhang mit Menollys Verschwinden gewundert hatte. Er verstand, weshalb man in der Burg nie über sie sprach und auch nicht nach ihr suchte. Für ihn stand fest, dass dieses Mädchen fortgelaufen war. Ein empfindsames Gemüt - und jemand, der so schöne Musik ersann, war empfindsam - musste
das Leben auf der Burg unerträglich gefunden haben. Elgion war wütend, dass Petiron sich nicht klarer ausgedrückt hatte. Wenn er Robinton nur geschrieben hätte, dass die vielversprechenden neuen Stücke von einem Mädchen stammten! Vielleicht wäre sie dann noch vor ihrem Unfall in die Harfnergilde geholt worden.
»Ich glaube nicht, dass wir in der Bucht jenseits der Drachensteine ein Feuerechsen-Gelege finden werden«, unterbrach Alemi die düsteren Gedankengänge des jungen Harfners. »Das Wasser reicht heuer bei Fluthochstand bis an die Küstenfelsen. Aber ich kenne noch einen Fleck... ich bringe dich gleich nach dem nächsten Fädeneinfall hin. Die Bootsfahrt dauert einen ganzen Tag.« Er machte eine Pause. »Und du bist sicher, dass man die Feuerechsen beim Ausschlüpfen an sich binden kann?«
»Wenn du willst, hisse ich die Signalflagge. Dann kannst du N’ton selbst fragen.« Elgion war froh um jede Ablenkung von dem heiklen Thema, das seine Freundschaft mit dem jungen Baron zu überschatten drohte. »Soviel ich hörte, schafft das jeder. Allerdings werden sie Jungharfner und Seeleute wohl ganz unten auf die Warteliste setzen.«
»Beim Roten Stern, wenn ich daran denke, wie viel Zeit ich als kleiner Junge damit verbrachte...
»Glaubst du, ich nicht?«, lachte Elgion.
Als sie am Spätnachmittag zur Dockhöhle zurückkehrten, schnitt Alemi noch einmal das Thema an, das sie beide bedrückte. »Du verstehst, weshalb du nicht wissen darfst, dass Menolly die Kinder unterrichtete?«
»Die Burg braucht sich dieses Mädchens nicht zu schämen!«, fuhr Elgion auf, doch gleich darauf spürte er Alemis harte Finger auf seinem Arm und lächelte. »Nein, keine Sorge - ich weiß, die Dinge, die man mir anvertraut, gut zu bewahren.«
Seine Antwort beruhigte den jungen Baron. Elgion aber
war fest entschlossen herauszubringen, wer bei den Drachensteinen Rohrflöte gespielt hatte. Denn er wusste genau, dass er Musik gehört hatte. Wind, der sich in Felsspalten verfing, klang anders. Irgendwie, und sei es unter dem Vorwand der Feuerechsen-Suche, musste er an die
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