Drachenlord-Saga 02 - Drachenherz
wirklich zu vergießen. Dann kam das wohlbekannte Ritual des Ablegens. Obwohl sie diesmal keinen Anteil daran hatte, beruhigte es sie, hielt sie durch seine Vertrautheit aufrecht. Sie stand mit den anderen an der Reling und winkte denen zu, die zurückblieben, bis sie sie nicht mehr sehen konnte. Einer nach dem anderen gingen ihre Mitreisenden weiter, bis sie allein dort stand.
Sie verließ die Heckreling erst, als es dunkel wurde und Linden sie suchte. Dann erwachte sie wie aus einem Traum zum wilden Geruch des Ozeans, zum endlosen Gesang der Wellen.
Irgendwie genügte ihr das nicht mehr.
Magie … Magie auf dem Wasser …
Der Gedanke wob sich durch die Träume des alten Drachen wie ein abgerissenes Stück von einer Pflanze in die Strömung des Flusses. Und wie ein solches abgerissenes Blatt es tun würde, entglitt es ihm, als er versuchte, danach zu greifen.
Aber es war dagewesen. Er wußte es; in seinem Schlummer, der so tief war wie ein kleiner Tod, brachte ihm dieses Wasser, in dem er schlief Nachricht von anderen Wassern, die weit entfernt waren, denn am Anfang und am Ende war alles Wasser eins.
Sie hatten Glück. Es war zwar schon kurz vor dem Winter, und Maurynna hatte erwartet, daß ihnen auf ihrer Überfahrt zumindest ein Wintersturm drohte, aber es sah so aus, als lächelten die Götter über ihre Reise. Das Wetter war mild und ruhig, wie selbst Otter es sich nicht besser wünschen konnte, und die Überfahrt angenehm, mit einem guten Wind, der ihnen folgte und Geschwindigkeit gab.
Die einzigen, die sich »beschwerten«, waren die Llysanyaner unter Deck. Nicht, Dank den Göttern, weil sie krank waren -Maurynna konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen als ein Pferd, das seekrank war und sich nicht übergeben konnte, weil Pferde das nicht tun können –, sondern weil sie nicht die Sonne und die Luft an Deck genießen konnten wie die Zweibeiner. Maurynna war froh, daß Linden daran gedacht hatte, einen Sack Äpfel mitzunehmen; Bestechung hatte tatsächlich etwas für sich, entschied sie eines Tages, als sie einen zufrieden kauenden Boreal striegelte.
Die Überfahrt war eine bittersüße Erfahrung für sie. Tatsächlich, sie war wieder auf See. Ja, und Linden war bei ihr. Und außerdem begleiteten sie einige der Menschen, die sie auf der Welt am meisten liebte.
Aber dies hier war nicht ihr Schiff. Und vor ihr lag eine Trennung von ihrem Seelengefährten. Sie zwang sich, das zu vergessen. Diese Tage waren ein angenehmer Traum, der Zeit entzogen, ein Geschenk, das sie von einem Augenblick zum anderen wie einen Schatz hütete.
Aber dennoch, Wachträume oder andere, alle Träume haben ein Ende. So auch dieser, und zwar an dem Tag, als die Docks von Sturmhafen in Sicht kamen. Der Kapitän hatte den Drachenlords und ihren Begleitern erlaubt, bei ihm und dem Steuermann auf dem Quarterdeck zu stehen.
Sturmhafen war so schön wie immer, dachte Maurynna. Der Anblick der goldenen Stadt in der Nachmittagssonne ließ ihr die Augen brennen. Reihe um Reihe von Gebäuden fächerten sich in einem Halbkreis vom Hafen aus und zogen sich über die Kalksteinfelsen, die diesen nördlichsten Teil des großen Thalnischen Plateaus bildeten.
»Es ist wunderschön«, sagte Linden. »Ich verstehe, wieso es dir gefehlt hat.«
Sie nickte, und eine plötzliche Welle von Heimweh machte es ihr unmöglich zu sprechen. Sie hatte solche Angst gehabt, diese Stadt nie wiederzusehen – oder zu spät zu kommen, um ihre Familie noch vorzufinden. Würde sie in Kindern, die in ein paar Jahrhunderten zur Welt kamen, den Widerhall von Gesichtern erkennen, die sie heute kannte?
Den Göttern sei Dank, daß ich hierherkommen konnte, solange alle, die ich kenne, noch am Leben sind.
Es fiel ihr schwer, sich zurückzuhalten, als sie anlegten. Maurynna mußte sich auf die Zunge beißen, um nicht Kapitän Hollens’ Platz einzunehmen. Nicht, daß er irgend etwas falsch machte, es war nur so, daß es viele kleine Dinge gab, die sie anders befohlen hätte.
Aber endlich waren sie am Dock der Erdon-Familie, und die Seeleute sprangen an Land, um die Schwanenherz festzumachen. Die Dockarbeiter drängten sich vor dem Schiff wie Bienen vor einem Honigtopf. Mehr als einer schien erschrocken über die Bande von Halsabschneidern, die die Mannschaft der Schwanenherz bildete.
Einen Augenblick lang noch stand Maurynna mit den anderen in der Mitte des Decks; dann war sie irgendwie an der Reling, beugte sich gefährlich weit vor und hoffte, auf dem
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