Drachenlord-Saga 03 - Das Lied des Phönix
Talboden hin. Die Wachen trieben ihre Gefangenen mit barschen Worten und hin und wieder einem Schlag an. Einer stieß Raven mit dem Speer; Maurynna hörte Ravens leisen Schrei. Ein neuer Blutfleck zeigte sich auf seinem Hemd.
Sie tobte in lautloser Wut, als Gefangene und Wachen weitergingen. Sie konnte die Hilflosigkeit schwer verkraften, aber sie mußte es Shima überlassen, die beiden zu befreien. Das oder ihren Schwur gegenüber Morien brechen. Und das würde sie nicht tun.
Zumindest nicht, solange es eine andere Möglichkeit gab.
Noch einmal sah sie sich nach Shima um, aber es gab kein Zeichen von ihm. Nur reine Willenskraft hielt sie davon ab, auf die Beine zu kommen und den Abhang nach ihm zu durchsuchen. War er davongerannt? Nein, wenn er dazu neigte, hätte Zhantse ihn nicht als ihren Begleiter ausgewählt. Sie hatte ihn zwar nur ein paar Tage lang gekannt, aber sie traute dem Seher. Sie wußte nicht, warum, aber sie traute ihm.
Dann nahm sie eine winzige Bewegung wahr. Wäre sie ein Echtmensch gewesen, hätte sie es vermutlich nicht sehen können. Shima schien wie ein Schatten über den Boden zu fließen.
Dann war er am Talboden angelangt. Sie kaute auf ihren Knöcheln, als Shima über den Talboden hinter die nichtsahnenden Wachen rannte und die andere Seite hinaufkletterte.
Den Göttern sei Dank, daß das Tal hier schmal ist. Aber was hat er wohl vor?
Noch während sie zusah, wechselte er die Richtung. Jetzt kletterte er nicht mehr nach oben, sondern den Abhang entlang in dieselbe Richtung, in die die fünf Wachen Raven und Tefira scheuchten. Er bewegte sich rasch. Zweifellos, dachte sie, hing seine Sicherheit davon ab, daß die Wachen es sich nicht im Traum hätten einfallen lassen, nach oben zu schauen.
Jetzt hatte er die kleine Gruppe beinahe eingeholt. Maurynna glaubte, voraussehen zu können, was er vorhatte: Er wollte an einen Punkt gelangen, wo das Tal noch schmaler wurde. Sie wußte immer noch nicht, was er plante, aber was immer es sein mochte, sie hoffte, es würde funktionieren. Und nun mußte sie sich auf den Weg machen – oder sie würde ihren Schwur brechen. Nun hing alles von Shima ab. Es gehörte zu den schwierigsten Dingen, die sie je getan hatte, aber sie wandte der Szene den Rücken und kehrte in die Dunkelheit zurück, die daraufwartete, sie erneut zu verschlingen.
Shima sprang von Felsblock zu Felsblock, von Kaqualla -Busch zu Kaqualla-Busch, und die scharfen, graugrünen, nadelartigen Blätter stachen ihn jedesmal, wenn er sich hinter ihnen verbarg. Einmal trat er auf einen lockeren Stein und löste einen Schauer von Steinen aus. Sie fielen den Abhang hinunter. Für ihn klang es wie eine Lawine; er erstarrte, traute sich nicht einmal zu atmen und hoffte, daß seine hellbraunen Kniehosen und das ärmellose Hemd zusammen mit der dunklen Haut vor den Farben der Schluchtwand nicht zu sehen wären, falls eine der Wachen in seine Richtung sah.
Niemand schaute hin. Tatsächlich hatten sie offenbar nichts gehört. Zitternd atmete er aus. Diesmal hatte er Glück gehabt, aber jetzt mußte er sich beeilen, wenn er sein Ziel rechtzeitig erreichen wollte – und das bedeutete mehr Gelegenheiten, die Aufmerksamkeit der Wachen auf sich zu lenken.
Aber es mußte sein. Er machte sich wieder auf den Weg und bewegte sich so schnell er es wagte.
Es genügte nicht; die Gruppe unter ihm hatte bereits einen Vorsprung. Nun hatte sich dieser Vorsprung noch vergrößert, und er glaubte nicht sie wieder einholen zu können.
Er fluchte leise vor sich hin.
Ich muß vor ihnen sein, bevor sie den Ausgang dieser Schlucht erreichen. Wenn sie nur langsamer würden! Er trieb sich weiter an, strengte jeden Nerv und Muskel in einem alptraumhaften – und wahrscheinlich vergeblichen – Klettern über den verräterischen Abhang an.
Gerade als er sicher war, daß er es nicht schaffen würde, geschah etwas unten im Tal. Shima blieb lange genug stehen, um zu sehen, daß Tefira sich bückte und einen Knöchel umklammerte. Raven kniete sich neben ihn. Blutflecke von unzähligen kleinen Schnitten breiteten sich über sein Hemd aus. Die Wachen drängten sich fluchend um sie und schrien Befehle durcheinander. Shima nutzte die Gelegenheit und huschte über den Abhang, ohne zu versuchen, sich zu verbergen. Wenn er diese Gruppe von Felsen direkt voraus erreichen konnte …
Da! Schwer atmend brach er hinter den Felsen zusammen, den Geistern sei Dank, daß er es geschafft hatte, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu
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