Drachenlord-Saga 03 - Das Lied des Phönix
lenken.
Dann verlor die Welt den Verstand – oder er. Plötzlich überwältigten ihn die Wüstendüfte, die er sein ganzes Leben lang gekannt hatte. Der trockene, staubige Geruch der Felsen und des Sandes, das scharfe Harzaroma zerdrückter Kaqualla -Blätter, das an seiner Kleidung hing, tausend andere subtile Düfte, alle droschen auf ihn ein. Er biß sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien.
Und die Geister mochten ihm helfen, er sollte nicht imstande sein, die Flüche, mit denen die Wachen den unglücklichen Tefira bedachten, so deutlich zu hören.
Als nächstes verrieten ihn seine Augen. Einen Augenblick lang konnte er normal sehen; im nächsten war alles so deutlich, daß es schmerzte. Er sah Einzelheiten der Gruppe unter sich, die er aus dieser Entfernung niemals hätte sehen sollen, nicht in tausend Jahren.
Ein geflickter Riß am Hemd eines der Wachen erweckte seine verblüffte Aufmerksamkeit. Er heftete den Blick auf die unregelmäßigen Stiche, als zählte sonst nichts auf der Welt.
Sehen Adler auf diese Weise? fragte er sich. Seine Gedanken purzelten in einem Durcheinander von neuen Anblicken, Geräuschen und Gerüchen übereinander. Hatte er plötzlich Fieber bekommen? Oder doch den Verstand verloren?
Verrückt oder nicht, er hatte etwas zu tun. Taumelnd kam er wieder auf die Beine. Er schob seine Angst weg und verließ den Schutz der Felsen. Wieder kletterte er den Abhang entlang. Er war nun vor den Männern drunten, deren Geschwindigkeit durch den hinkenden Tefira verringert worden war.
Während er von einem Versteck zum anderen glitt und schlitterte, wurde die Welt um ihn her wieder normal, beinahe ohne daß er es bemerkt hätte. Er seufzte erleichtert, mitten im Rennen. Alles war wieder so, wie es sein sollte.
Oder nicht? War nicht doch alles ein wenig schärfer, die Farben ein wenig heller? Er weigerte sich, daran zu denken.
Denn nun lag sein Ziel direkt vor ihm: ein großer, runder Felsen, der nur von ein paar kleinen Steinen am Platz gehalten wurde. Es war ein Wunder, daß die kürzlichen Erdbeben ihn noch nicht hatten ins Tal rollen lassen. Shima hoffte, mehr Glück zu haben.
Jetzt, betete er, als er die letzten Schritte zum Felsen zurücklegte. Laß Raven und Tefira vor den Wachen bleiben; diese Mistkerle wollen es sicher nicht riskieren, einem Dämon zu nahe zu kommen …
Er war an Ort und Stelle. Mit der Schulter schon am Felsen, spähte Shima um den Stein herum zum Talboden und beobachtete die Gruppe. Entsetzt bemerkte er, daß Tefira unter dem Vorwand, mit Raven zu sprechen, tatsächlich zum Hang hinaufblickte. Nach einem kurzen Blick, um sich zu überzeugen, daß keiner der Wachen sich dafür interessierte, wagte Shima einen winzigen Augenblick die Hand zu heben. Tefira hinkte eiliger vorwärts und stieß gegen Raven, faßte den Arm des Yerrin mit einer Hand, als wollte er sich stützen; Shima sah und erkannte die Bewegung als das, was sie war: ein übertriebenes Nicken.
Aber wieso hatte der Junge gewußt, daß er hier war?
Nun waren Raven und Tefira beinahe auf gleicher Höhe mit ihm. Auf einen Impuls hin hob Shima wieder die Hand. Tefira begann zu rennen und riß den überraschten Raven mit sich. Er hinkte nun nicht mehr.
Shima hätte beinahe laut gelacht. Der Junge hatte nur so getan, als hätte er sich den Knöchel verrenkt!
Dennoch – wie … Shima kam ein Gedanke. Vielleicht war der Junge ja doch zum Seher berufen.
Genug davon. Er hatte zu tun. Aus reiner Überraschung hatten Raven und Tefira einen kleinen Vorsprung. Sie liefen so schnell wie Hasen zwischen die Felsen.
Aber nun folgten die Wachen ihnen. Shima blieb hinter dem Felsen außer Sicht, legte die Hände an den Mund und brüllte auf Jehangli: »Feldwebel!«
Der Soldat mit dem auffälligsten Rangabzeichen an der Rüstung blieb verwirrt stehen; er sah sich wild um. »Diese beiden sind nur eine Ablenkung, ihr Narren! Hier oben sind Tah’nehsieh-Krieger, verflucht sollen sie sein. Eilt euch!«
Der Feldwebel zögerte. Shima stieß eine Flut von Flüchen aus, die er einmal von einem Jehangli-General gehört hatte, der sich den schlechtesten Weg ausgesucht hatte, das Mehanso zu erobern. Die Soldaten unter ihm erbleichten und begannen, den Hang hinaufzusteigen.
Shima beobachtete sie durch einen schmalen Riß zwischen zwei Felsen. Er wartete, während die Männer in ihren schweren Rüstungen grunzend auf ihn zustiefelten. Nur noch ein wenig weiter, und dann wären sie in der Falle. »Kommt schon, ihr
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