Drachenlord-Saga 03 - Das Lied des Phönix
sofort waren tausend Falten zu sehen. Von seinem langen grauen Schnurrbart und dem dünnen Kinnbart abgesehen, sah er aus wie einer der getrockneten Äpfel, die die Kinder der Armen als Köpfe für ihre Puppen benutzten. Ein tröstliches Gesicht für einen Mann, der so verstörende Fragen stellte; Fragen, für die man verbannt werden konnte.
»Das wißt Ihr ebensogut wie ich«, entgegnete Xiane.
»Tut einem alten Mann, dessen Gedanken dieser Tage ins Wandern geraten, den Gefallen«, sagte Kirano. Sein Blick war alles andere als der eines Tattergreises. Statt dessen beobachtete er den Kaiser mit falkenhafter Intensität.
Xiane, der sich wieder wie ein Schüler fühlte, rezitierte mürrisch: »Michero, der letzte der nördlichen Kaiser, hielt den Lotusthron seiner Urahnen mit eiserner Hand. Seinem Willen entsprechend verwüsteten die Drachen das Land, und das Land blutete und starb. Seine Adligen flehten meinen verehrten Vorfahren, Xilu, an, sie vor dem Kaiser und seinen Drachen zu retten, denn Xilu war der einzige Adlige, der stark genug, tapfer genug und anständig genug war, um die Gunst des Himmels zu erwerben und gegen den Kaiser angehen zu können. Zunächst weigerte sich Xilu, denn im Herzen war er ein schlichter Mensch. Aber die Adligen – und selbst das gemeine Volk – flehten ihn ununterbrochen an, sich des Throns zu bemächtigen. Aber Xilu war ein Mann des Friedens und wußte, daß ein solcher Kurs Krieg bedeutete. Überwältigt von ihren Forderungen, floh Xilu in die Wildnis, um über den richtigen Weg zu meditieren. Auf den Rat des Orakels seines Bruders Gaolun hin ging er zu dem verbotenen Berg Rivasha, wo der Phönix seinen Scheiterhaufen baute. Mit ihm gingen sein Bruder Gaolun, der zum ersten Nim werden sollte, und das Orakel.«
Xiane hielt inne und trank einen Schluck Tee. Die Wahrheit war, daß er diesen Teil seines Unterrichts immer gehaßt hatte. Wieder und wieder und wieder hatten ihm seine Lehrer die Geschichten der Großartigkeit des ruhmreichen Opfers von Xilu dem Wohltäter eingehämmert, bis Xiane, der unter dem Gewicht eines solchen Ahnen zusammenbrach, am liebsten laut geschrien hätte. Denn er, der Sohn einer einfachen zharmatianischen Konkubine, die im Krieg erbeutet worden war, hatte keinen göttlichen Wert. Das hatten sie ihm tausend und abertausend Mal gesagt, bis er es geglaubt hatte.
Keinen Wert – jedenfalls nicht, bis seine einzigen Brüder, beide Söhne der Ersten Konkubine, zusammen mit ihrer Mutter hingerichtet wurden, weil sie gegen den alten Kaiser intrigiert hatten.
Xiane starrte die zarte Teeschale an, die er in den Händen hielt; eine Schale mit goldenem Phönixmuster. Eine Schale, aus der nur der Kaiser und vielleicht seine Favoriten trinken durften. Seine Schale.
Er fuhr fort: »Aber als sie dort eintrafen und in den Krater des erloschenen Vulkans Rivasha hinabstiegen, stellten sie fest, daß es die Zeit für den Tod und die Auferstehung des Phönix war. Sie knieten vor ihm nieder, überwältigt von seiner Schönheit, und fürchteten um ihr Leben, denn sie wußten, daß dieses Leben nichts mehr wert war. Sie hatten gegen das Gesetz verstoßen. Aber der Phönix betrachtete sie freundlich und bat sie nur, Zeugen seiner Wiedergeburt zu werden. Also sahen Xilu, Gaolun und das Orakel zu, wie der Phönix die letzten Duftholzscheite auf den Scheiterhaufen legte. Es schmerzte sie bis ins Herz, an den Tod solcher Schönheit zu denken, als sich der Phönix auf dem Scheiterhaufen niederließ und dem Zauberfeuer seiner Federn gestattete, das Holz zu ergreifen.«
Wieder trank er einen Schluck Tee. »Das Holz begann zu brennen. Und da das Feuer das des Phönix selbst war, flackerte es hoch auf. Sie weinten, als sie den Phönix sterben sahen. Aber noch während sie zusahen, wie er zu Asche verbrannte, erklang eine Stimme, die schöner war als alles, was sie je zuvor gehört hatten. Eine Stimme von unirdischer Schönheit. Es war der Phönix, und wegen ihrer Tränen und weil das Land Jehanglan unter der Herrschaft des bösen Kaisers und seiner Drachen so litt, versprach er, ihnen zu helfen. Xilu sollte, weil er ein so aufrechter Mann war, der nächste Kaiser von Jehanglan werden. Gaolun, vollkommen seinem älteren Bruder ergeben, wurde der erste Hohe Priester des Phönix. Der Phönix wollte sich selbst im heiligen Berg einschließen und ihnen seine Macht geben, im Austausch für die Anbetung des Volkes. Und so«, sagte Xiane und holte tief Luft, »wurde Jehanglan zum Reich des
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