Drachenmonat
man in der Sekunde vorher nichts gewusst hatte.
»Hätte Krister nicht dort gesessen, wären wir schon weiter«, sagte ich. »Glaubst du?«
»Aber vielleicht hat es so sein sollen, dass er dort saß«, sagte ich. »Und wer hat das bestimmt?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht hatten wir einfach Glück.«
»Wenn es ein Glück war«, sagte Kerstin.
»Was denn sonst? Ein guter Trick?«
Sie antwortete nicht. Ich hörte kein Lachen.
»Vielleicht war es auch Pech«, sagte sie nach einer Weile. »Vielleicht wäre es besser, wir wären nicht hier. Es wird langsam zum Albtraum.«
»Albtraum? Na, ich weiß nicht«, sagte ich.
»Wer weiß, was noch alles passiert«, sagte sie. »Irgendwas Schreckliches.«
»Wer sollte denn jetzt noch herkommen«, sagte ich und richtete mich auf. Ich konnte sie nicht sehen, vermutete aber, dass sie sich auch aufgerichtet hatte und hinausspähte. Gegenüber standen drei Autos, die fast aussahen, als würden sie auf etwas warten. Als würde noch etwas passieren. Als würde jemand kommen.
»Möchtest du lieber raus?«, fragte ich.
»Wo sollen wir denn hin? Es ist mitten in der Nacht.«
»Das ist doch gerade gut. Dann sieht uns niemand.«
»Wir können nicht nur herumlaufen.«
»Aber schlafen können wir auch nicht.«
»Das klingt fast so, als wolltest du von hier abhauen, Kenny.«
»Nur für eine Weile raus«, sagte ich.
Die Straße auf der anderen Seite der Brandmauer war leer und still. Etwas weiter entfernt leuchteten einige Schaufenster. Das Einzige, was ich in dieser Stadt wiedererkannte, waren der Park, der Fluss und die Würstchenbude. Janne und ich waren im vergangenen Sommer für einen Tag aus dem Camp abgehauen, hierher. Flucht konnte man es nicht gerade nennen, aber als wir ins Camp zurückkehrten, war nichts mehr wie vorher. »Welche Richtung?«, fragte ich.
»Rechts.« Kerstin nickte mit dem Kopf zu den Schaufenstern.
Die Autoschlüssel waren in meiner Hosentasche, und ich hoffte, dass Krister Ersatzschlüssel hatte. Falls er das Auto heute Nacht plötzlich brauchte, würde er es aufschließen können. Unsere Rucksäcke hatten wir zwar mitgenommen, aber wir wollten zurückkehren.
Das Licht vor dem Schaufenster war blau. Es war ein Laden, der Fernsehgeräte verkaufte. Fünf Apparate zeigten dasselbe Testbild. Da gab es nicht viel zu sehen. Es waren dieselben Kreise und Vierecke in verschiedenen Größen.
Kerstin fröstelte.
»Ist dir kalt?«
»Nein.«
»Mir auch nicht. Es ist fast wie im Sommer.«
»Aber wenn wir lange stillstehen, wird uns kalt. Wir müssen uns bewegen.« Sie zeigte zu einer Kreuzung. »Vielleicht können wir einmal um den Häuserblock gehen.«
Bei der Kreuzung bogen wir nach links ab. In einiger Entfernung sah ich das Kreuz auf einem Kirchturm, das sich wie eine schwarze Tuschezeichnung auf dunkelblauem Papier abhob. Überall war es still, als wären wir die Einzigen in der Stadt. Alle anderen waren geflohen.
»Hier wohnt Janne«, sagte ich.
»Ach?«
»Hab ich das nicht gesagt? Er darf bei dem Bogenschützen wohnen.«
»Das wusste ich nicht.«
»Er hat mir eine Ansichtskarte geschickt.«
Janne hätte nach den Sommerferien zu einer Pflegefamilie in Norrland kommen sollen, aber er wollte kein Bauernknecht werden. Zwei Indianer aus dieser Stadt hatten uns bei dem großen Kampf geholfen. Sie waren Mohikaner und konnten den ganzen Sommer über machen, was sie wollten. Einer von ihnen hatte seine Eltern gefragt, ob Janne nicht bei ihnen einziehen dürfe. In dem Haus gab es offenbar etwas wie eine eigene Wohnung. Und die Eltern hatten zugestimmt.
Jetzt standen wir auf einem großen Rasen. Ich erkannte den Park, in dem Janne und ich gewesen waren, als wir die Mohikaner das erste Mal getroffen hatten. Sie waren auf dem Fluss endanggepaddelt. Da war es Altweibersommer gewesen, richtiger Indiansummer, wie es auf Englisch hieß. Wieder wollte ich wissen, was das Wort bedeutete, wahrscheinlich etwas Selbstverständliches, worauf ich selbst kommen müsste. Die Mohikaner wussten es bestimmt. Sie wussten alles über Indianer, über verschiedene Stämme und woher aus Amerika sie kamen.
»Auf der Ansichtskarte war ein Foto von diesem Park«, sagte ich.
Plötzlich kam Wind auf. In dem trockenen Laub raschelte es herbstlich. Blätter fielen im Mondschein zu Boden. Der Park mit seiner bleichen Rasenfläche, durch die sich Schotterwege schlängelten, sah im Mondlicht ganz unwirklich aus.
»Weißt du, wo er wohnt?«, fragte Kerstin.
»Die Adresse
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