Drachenmonat
sie uns im Radio beschrieben haben, fühle ich mich wie ein ausgebrochener Sträfling«, sagte Kerstin.
Dazu sagte ich nichts. Ich hätte was über gestreifte Kleidung sagen können, aber es war die falsche Zeit für Witze.
Plötzlich fühlte ich mich auch wie ein ausgebrochener Sträfling. Jetzt war es ernst geworden. Noch ernster.
»Ihr könnt euch bei uns verstecken«, sagte Erik.
»Aber wie lange?«, sagte Kerstin. Ihre Stimme klang wütend.
»Wir verstecken uns nicht«, sagte ich. »Wir sind nicht abgehauen, um uns zu verstecken.«
»Warum seid ihr denn abgehauen?«, fragte Erik. Er kannte die ganze Geschichte noch nicht.
»Wir konnten nicht anders.«
»Warum?«
Irgendwo im Haus klingelte ein Telefon. Das Kungeln schien aus einem weiter entfernten Zimmer zu kommen. Erik verließ rasch die Küche.
Kerstin starrte auf das Radio, als erwarte sie, dass noch mehr über uns gesagt wurde, aber jetzt kam Musik. Zuerst Trommeln, dann Orgeln, Klaviere und Gitarren. Und dann begann jemand wie durch die Nase zu singen. Englisch. Aber es war nicht Elvis. Ich hörte zu. Wir hörten alle drei zu. So was hatte ich noch nie gehört. Vielleicht war das Pop.
»Wer ist das?«, fragte ich.
»Keine Ahnung«, sagte Janne, und Kerstin schüttelte den Kopf.
»Aber das ist gute Musik«, sagte sie nach einer Weile.
Wir lauschten wieder. Man konnte gar nicht weghören. Erik telefonierte in der Diele, aber darum kümmerten wir uns nicht.
»Versteht ihr den Text?«, fragte Janne.
Ich versuchte etwas zu verstehen. Einige Wörter wiederholte der Sänger manchmal. Es klang wirklich so, als singe er durch die Nase, aber das machte nichts. Es war gute Musik, wie Kerstin gesagt hatte. Sie machte einen froh. Da waren die Wörter wieder.
»Like a rolling stone«, wiederholte ich. »Er singt die ganze Zeit >Like a rolling stone<.«
»Was bedeutet das?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Irgendwas von einem Stein, wie ein Stein.«
»Wie ein rollender Stein«, sagte Kerstin.
Ich nickte.
»Es gibt eine Popband, die heißt Rolling Stones«, sagte ich.
»Sind die das?«, fragte Janne.
»Nein.«
»Woher weißt du das?«
»Ich hab sie mal im Radio gehört. Das sind die nicht.«
»Bist du Experte?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte nur einen Song gehört, vielleicht zwei. Aber der Sänger hatte nicht wie dieser gesungen.
»Wie sich das wohl anfühlt, ein rollender Stein zu sein?«, sagte Kerstin.
»Was?«, sagte Janne.
»Das singt der doch.« Sie deutete mit dem Kopf auf das Radio. »Wie fühlt es sich an, ein rollender Stein zu sein?«
Erik kam nach dem Telefongespräch zurück. Wir standen immer noch in der Küche. Im Radio spielten sie jetzt andere Musik, die ganz belanglos klang.
»Das war meine Mutter. Sie kommen morgen zurück.«
»Sie wollten doch eine Woche wegbleiben«, sagte Janne.
»Wir gehen sowieso«, sagte Kerstin.
»Was wollt ihr jetzt machen?« Erik wies mit dem Kopf auf das Radio. »Ihr werdet gesucht.«
»Wir rollen weiter«, sagte Kerstin. »Wir sind rollende Steine.« Sie lächelte.
»Die bewegen sich doch nicht, wenn nicht jemand gegen sie tritt«, sagte Erik.
»Wir bewegen uns«, sagte ich. »Und uns tritt keiner.«
Aber irgendwie hatte er Recht. Man hatte uns mit Tritten aus der Stadt verjagt. In der perfekten Welt, in Satori, brauchte niemand wegzugehen. Doch bisher hatte ich noch nicht mal den äußersten Rand einer perfekten Welt gesehen. Vielleicht waren wir unterwegs in diese Welt, Kerstin und ich. Ich war unterwegs, seit ich Samurai geworden war. Wäre ich nicht Samurai geworden, hätte ich mich nicht einen Meter bewegt.
»Dein Katana und das Wakizashi haben sie im Radio nicht erwähnt«, sagte Janne. »Sie haben nicht gesagt: Vorsicht, der Samurai ist bewaffnet!«
Wir lachten. Es war ein schönes Gefühl, ein bisschen zu lachen. Kerstin lachte auch. Sie war nicht bewaffnet. Ihr Katana und Bokken, das hölzerne Kampfschwert, hatten wir nicht mitgenommen. Wir hatten es zu Herbstbeginn aus einem feinen gerade gewachsenen Wacholderstamm geschnitzt.
»Er hat auch nicht deinen richtigen Namen genannt, Kenny«, sagte Janne nach einer Weile.
»Nein, dann meinen die mich auch gar nicht. Da wird einer gesucht, der heißt Tommy.«
»Aber meinen Namen hat er genannt«, sagte Kerstin.
»Das ist doch egal«, sagte ich. »Ich glaube, denen ist es egal, ob ich Tommy oder Kenny heiße. Dass sie uns suchen, wussten wir doch auch schon vorher. Würden sie das nicht tun, wäre es komisch. Nichts
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