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Drachenmonat

Drachenmonat

Titel: Drachenmonat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ake Edwardson
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antwortete er.
    »Wo ist sie?«, fragte Kerstin.
    »Hör mal, ich hab hier mit Fragen angefangen!«
    »Haben Sie Kinder?«, fragte ich.
    »Nein, zum Glück nicht.«
    »Wieso zum Glück nicht?«, fragte Kerstin.
    Mister Swing machte eine Geste, die den ganzen Jahrmarkt umfasste. Um Mister Swings Wohnwagen standen fünf, sechs weitere Wohnwagen im Halbkreis. In einiger Entfernung waren schon fast alle Buden aufgebaut. Uber dem Varietezelt hing ein rot-schwarzer Wimpel. Er könnte der Wimpel einer Samuraiarmee sein.
    »Das hier ist kein Leben für Kinder«, sagte er.
    »Sie sind doch in einem Zeltlager aufgewachsen«, sagte ich.
    »Schon.«
    »Dort gab es nur Zelte, hier haben Sie immerhin Wohnwagen.«
    Mister Swing lächelte. »Du kannst reden, Junge. Das könnt ihr beide.«
    »Sie aber auch«, sagte Kerstin.
    »Trotzdem, ihr müsst mit der Herumtreiberei aufhören«, sagte er. »Das geht einfach nicht.«
    Wir schwiegen. Mister Swing sah uns an, als dächte er über etwas Schwieriges nach. Oder etwas, das schwer auffindbar war in den Regalen der Erinnerung.
    »Ich kann euch nicht hierbehalten«, sagte er. »Dann kriegen wir die Behörden an den Hals. Und nicht nur das Jugendamt.«
    »Ich weiß«, sagte ich.
    »Ich kann euch Geld geben, und ihr fahrt mit dem Bus nach Hause, oder mit der Bahn.«
    »Wir haben Geld«, sagte ich. »Dann fahrt nach Hause.«
    »Wir haben kein Zuhause.«
    »Das wisst ihr nicht. Ihr habt doch nicht zu Hause angerufen, um zu erfahren, was in den letzten Tagen passiert ist?«
    »Wir haben es versucht«, sagte ich. »Versucht es noch mal.« Ich nickte.
    »Euren Müttern geht es vielleicht schon besser.« Wir schwiegen.
    »Ich hab kein Telefon im Wohnwagen, sonst könntet ihr von hier aus anrufen.«
    »Das machen wir in der Stadt«, sagte ich.
    »Und die Polizei hat euch also nicht gefunden. Sonst ist sie eigendich immer ziemlich erfolgreich.« Mister Swing sah aus, als hielte er die Polizei für etwas zu erfolgreich.
    Ich stand auf.
    Plötzlich ertönte Musik aus dem Varietezelt. Jemand blies auf einer Trompete. Das klang, als würde die Kavallerie zur Attacke gegen die Apachen blasen.
    Die Trompetenstöße verstummten, setzten aber sofort wieder ein.
    »Himmel, nun hört euch den bloß an«, sagte Mister Swing. »Wer ist das?«, fragte ich. »Das ist der Goldmann.«
    »Der Goldmann?«, fragte ich.
    »Habt ihr das Plakat nicht gesehen?« Mister Swing zeigte auf den Eingang mit der Kasse und dem Drehkreuz, wo sie inzwischen ein Plakat aufgehängt hatten. Aber es war zu weit entfernt, um zu erkennen, was darauf war.
    »Der Goldmann«, sagte Mister Swing. »Bei ihm ist alles Gold. Goldene Kleidung, goldene Schuhe, goldene Haare. Ein Herz aus Gold. Und er spielt auf einer goldenen Trompete.«
    Wir hörten ihn wieder spielen. Ich meinte die Melodie zu kennen. Vielleicht war es »Im Frühtau zu Berge«.
    »Zum Glück tritt er erst nach mir auf«, sagte Mister Swing und hielt sich die Ohren zu. »Dann kann man fliehen.«
    »Hat er wirklich eine goldene Trompete?«, fragte Kerstin.
    »Aber ja, eine echt goldgefärbte Trompete.«
     
    15
     
    Die Trompete des Goldmannes war bis halb in die Stadt hinein zu hören.
    »Armer Mister Swing«, sagte Kerstin.
    »Die sind alle zu bedauern«, sagte ich. »Sie müssen es sich jeden Tag anhören.«
    »Vielleicht hat er nur geübt«, sagte Kerstin. Sie lachte. Ihre Wangen hatten Farbe bekommen, als hätten die Farben, die uns umgaben, ein bisschen auf sie abgefärbt. Sie passte zum Herbst.
    Plötzlich nahm ich ihre Hand. Sie war warm.
    Sie schwang ihre Hand, und da schwang ich meine auch.
    »Ist das ein Trick?«, fragte ich.
    »Nein, was?«
    »Ich wollte nur fühlen, ob dir warm oder kalt ist«, sagte ich. »Warum?«
    »Auf Reisen erkältet man sich leicht.«
    »Ich bin nicht erkältet.«
    Ich ließ ihre Hand los. Vielleicht war mir vorher kalt gewesen, aber jetzt war meine Hand auch warm, von ihrer Hand.
    Es war Nachmittag geworden, und die Sonne begann unterzugehen. Wenn es bei Sonnenuntergang so abkühlte, wusste man, dass es Herbst wurde. In einem warmen Sommer spielte es fast keine Rolle, ob die Sonne schien oder nicht. Und es war auch immer hell, mit oder ohne Sonne. Es war immer gleich schwer zu schlafen. Im Camp war mir das Einschlafen immer schwergefallen. Wir mussten so früh zu Bett gehen, und es waren so viele im Schlafsaal. Ich würde nie mehr in einem Schlafsaal schlafen wollen. Lieber schlief ich unter einer Tanne. Vielleicht konnte ich das heute Nacht

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