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Drachenmonat

Drachenmonat

Titel: Drachenmonat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ake Edwardson
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anhört. Sie hört überhaupt kein Radio.« Mir fiel der Femseher in ihrem Wohnzimmer ein. »Aber wenn dein Vater nach Hause kommt, erzählt sie ihm bestimmt von uns, und dann zählt er eins und eins zusammen«, sagte ich.
    »Vielleicht kommt er gar nicht auf die Idee, dass ihr das seid. Vielleicht denkt er, ihr seid mit dem Bus gekommen und fahrt heute Abend wieder nach Hause.«
    »Heute Abend geht kein Bus mehr«, sagte Kerstin.
    »Und wenn er ein guter Polizist ist, weiß er das«, sagte ich.
    »Ich weiß nicht, ob mein Vater ein guter Polizist ist«, sagte Ann.
    »Hoffentlich ist er das nicht«, sagte Kerstin.
    Ann lächelte, aber sie wirkte trotzdem bedrückt. Vielleicht machte sie sich mehr Sorgen als wir. Wir gewöhnten uns langsam daran, Sorgen zu haben. Das ist ein gutes Training, um ruhig zu werden, das beste, das ich bisher hatte. Wenn wir weiter auf der Flucht blieben, würden wir genauso ruhig wie die Statue von dem alten Tegner werden. Ruhig wie Stein.
    »Ihr müsst euch verstecken«, sagte Ann. »Wir können uns nirgends verstecken«, sagte ich, »nicht hier in der Stadt.« Aber dann fiel mir etwas ein.
    »Wir haben ja Freikarten für den Jahrmarkt. Der müsste inzwischen geöffnet haben.«
     
    Er war geöffnet. Vor der Kasse standen schon viele Leute Schlange. Als wir an der Reihe waren, erkannte ich den Rothaarigen, der Ohren wie Flügelmuttern hatte.
    »Swing hat euch schon angekündigt«, sagte er. Er erkannte uns wieder, das hätte ich nicht gedacht. Vielleicht lag es an meinem Schwert oder an Kerstins langen hellen Haaren. Vielleicht würden wir bald überall wiedererkannt werden.
    »Hände vorzeigen«, sagte er. »Ihr kriegt einen Stempel. Der verschafft euch freien Zugang zu allen glänzenden Attraktionen.«
    Er sprach vornehm, ungefähr so, wie es zu Hause bei Ann aussah. Vielleicht hatte er früher einen besseren Job gehabt. Aber der war ihm irgendwann langweilig geworden, und er hatte angefangen, mit dem Jahrmarkt herumzureisen. Ein Wellenmann zu werden. Vielleicht war das gar keine schlechte Idee, mit einem Jahrmarkt oder einem Zirkus zu reisen. Man musste sich nicht immer an derselben Stelle aufhalten. Das war einfach nicht gut. Vielleicht verblödete man oder wurde bösartig. Wer reiste, sah mehr und verstand auch mehr. Oder man verstand weniger, aber das war auch nicht schlecht. Man begriff wenigstens, dass man weniger verstand.
    »Wir sind zu dritt«, sagte ich.
    »Habt ihr euch schon fortgepflanzt, ha, ha, ha.«
    »Wir haben eine Freundin getroffen.«
    »Ja, ja.« Er beugte sich vor, nahm Anns Hand und drückte ihr auch einen Stempel auf.
    Sie zog die Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt.
    »Meine Eltern wissen nicht, dass ich hier bin«, sagte sie. »Ich hatte mich noch nicht entschieden, ob ich mitgehen will.«
    »Willst du denn nicht?«, fragte ich.
    Sie sah zu den Jahrmarktsbuden. Von dem Häuschen, wo es die Eintrittskarten gab, hatten sie bis zur Mitte Leitungen gezogen und Glühlampen aufgehängt, die in allen Farben des Regenbogens in der Nacht leuchteten. Auf dem Weg hierher war es dunkel geworden. Die Karusselle dort drinnen drehten sich in großen Schleifen aus Licht. Jemand rief etwas in ein Megafon. Ich meinte, ihn »Mister Swing« sagen zu hören, konnte aber das Varietezelt von der Stelle, wo wir standen, nicht sehen.
    »Klar willst du rein«, sagte Kerstin.
    »Nur einen Augenblick«, sagte Ann.
    »Wir bleiben auch nur kurz«, sagte Kerstin.
    »Oder für immer«, sagte ich. »Für eine Weile oder für immer.«
    »Sagen die Samurais so was?«, fragte Ann. »Nein, das sage ich.«
    »Ist es nicht dasselbe?« Ann sah Kerstin an. Vielleicht lächelten sie beide, oder es war das merkwürdige Licht, das die Gesichter veränderte.
    »Gehen wir jetzt rein oder nicht?«, sagte ich.
     
    Ich stand vor dem Stand, an dem man Bälle auf eine Pyramide von leeren Konservenbüchsen werfen konnte. Da hörte ich eine Stimme, die ich im vergangenen Sommer jeden Tag gehört hatte, und jeden Tag der drei vergangenen Sommer.
    »Kenny! Kenny!«
    Ich drehte mich um.
    Zwei Meter entfernt stand Klops. Er starrte mich an, als sähe er eine wandelnde Erscheinung. »Kenny!«
    Er war seit dem Sommer kein Kotelett geworden und auch kein Steak. Er sah immer noch aus wie eine Wurst. Er war immer noch eine kleine Cocktailwurst. Wenn er wuchs, würde er vielleicht eine Bockwurst werden. Seine Mutter würde ihm weiterhin zu kleine Sachen zum Anziehen geben, aber deswegen würde er nicht dünner

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