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Drachenmonat

Drachenmonat

Titel: Drachenmonat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ake Edwardson
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    »Mister Swing hat traurig ausgesehen«, sagte Kerstin.
    »Vielleicht wird man traurig, wenn man auf Glas kauen muss«, sagte ich.
    »Ich glaube, er fühlt sich einsam.«
    »Er hat doch all die anderen. Die sind bestimmt wie eine große Familie.«
    »Das ist keine Familie, für keinen von ihnen.«
    »Nein, wahrscheinlich nicht.«
    »Was ist eine Familie für dich, Kenny?«
    Sie war stehen geblieben und schaute mich an. Wir hatten die Stadt erreicht. Ein Bus fuhr an uns vorbei. Auf der anderen Straßenseite gab es einen Eisenwarenhandel. Im Schaufenster waren verschiedene Bohrer aufgehängt. Ein alter Mann kam mit einem Karton Nägel unterm Arm aus der Tür und sah uns nicht an, als er die Straße überquerte und an uns vorbeiging.
    »Familien können sehr unterschiedlich sein«, sagte ich. »Eine gute Familie«, sagte Kerstin. »Wie ist eine gute Familie?«
    Ungefähr das Gegenteil von unseren Familien, dachte ich. Man braucht nicht beides, Vater und Mutter. Das war reiner Luxus. Aber vielleicht war es gut, einen von beiden zu haben. Oder auch nicht. Vielleicht sollte man weggehen, sobald man laufen konnte. Und wenn man das nicht konnte, sollte man rollen.
    »Eine Familie hält zusammen«, sagte ich.
    Kerstin nickte und sah aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Eben noch hatte sie gelacht, und jetzt würde sie vielleicht weinen. Vielleicht sah ich auch aus, als würde ich gleich weinen. Ich hatte schon seit langem in keinen Spiegel mehr geschaut. Vielleicht hatte ich inzwischen einen Bart bekommen wie Mister Swing. Samurais schauten nicht in den Spiegel. Ein Samurai kehrte den Spiegel nach außen, um alles aufzufangen, wie es war, gleich ob gut oder schlecht, gefährlich oder freundlich.
    »Ich habe nicht zu meiner Familie gehalten«, sagte Kerstin. »Ich hab sie im Stich gelassen.«
    »Du bist von deiner versoffenen Mutter abgehauen«, sagte ich. »Deinen Bruder hatten sie schon abgeholt. Nicht du hast die Familie im Stich gelassen. Es ist doch nicht die Aufgabe der Kinder, die Familie zusammenzuhalten.«
    »Ach?«
    »Wollen wir jetzt zu Ann gehen?«, fragte ich.
     
    Ann wohnte in der Tegnerstraße. In einem Brief hatte sie Kerstin erzählt, dass sich in der Straße das Polizeirevier befand.
    Wir standen an einem kleinen Platz. In der Mitte ragte eine Statue auf, ein Mann, der uns geradewegs anschaute. Er sah überrascht aus, als hätte er nicht erwartet, dass ausgerechnet wir seine Stadt besuchen würden.
    »Wir können den Kerl ja nach der Tegnerstraße fragen«, sagte ich und wies mit dem Kopf auf die Figur. Sie war aus Stein, vielleicht sogar aus Marmor.
    »Warum werden immer alte Männer zu Statuen?«, sagte Kerstin.
    »Wirklich nur alte Männer?«
    »Immer.«
    Ich ging näher heran und las den Namen von einem Schild ab, das aus Bronze oder so was war.
    »Der Kerl heißt tatsächlich Tegner«, sagte ich. Die Statue sah mich immer noch an, obwohl ich näher gekommen war. Der Mann trug eine Art Mantel, so einen, wie sie die englischen Soldaten in Amerika getragen hatten, als Amerika noch englische Kolonie gewesen war.
    »Frag ihn doch«, sagte Kerstin. »Er sollte ja wissen, wo die Tegnerstraße ist.«
    Ich fragte. Plötzlich sah ich, dass Tegner die Hand nach rechts ausstreckte. Ich drehte mich um. Hinter einigen Birken sah ich ein großes Gebäude. Auf einem weißen Schild stand POLIZEI.
     
    Tegnerstraße 28. Die Ziffern waren fast genauso groß wie die Buchstaben am Polizeirevier. Daran waren wir schnell vorbeigegangen. Draußen hatte ein Polizeiwagen geparkt, ein schwarz-weißer Volvo Amazon. Polizisten waren nirgends zu sehen.
    Tegnerstraße 28 war ein etwas versteckt gelegenes Mietshaus aus Stein.
    »Ich weiß nicht, welche Etage«, sagte Kerstin.
    »Wir kommen nicht rein«, sagte ich, »und in jedem Stockwerk gibt es mindestens drei Wohnungen.«
    »Sie haben einen Balkon«, sagte Kerstin.
    Wir gingen um das ganze Haus herum. Nirgends stand ein Fenster offen. Es war wohl noch niemand zu Hause. Im Fahrradständer standen einige Fahrräder. Ein identisches Haus lag, durch einen Rasen getrennt, daneben. Auf dem Rasen befanden wir uns jetzt. Aus dem anderen Gebäude kam eine Frau, die ungefähr so alt war wie meine Mutter, mit einem Korb voll frisch gemangelter Laken unter dem Arm. Sie kam geradewegs auf uns zu, ging an uns vorbei, blieb jedoch nach wenigen Schritten stehen und drehte sich um.
    »Sucht ihr jemanden?«, fragte sie.
    Wir antworteten nicht.
    »Ich hab euch noch nie

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