Drachenmonat
schmeckt am besten?
»Manchmal hab ich auch Rückenschmerzen, wenn ich auf schlechten Flaschen gelegen habe, während zehn dicke Bauern auf meinem Bauch rumgehüpft sind.«
Mister Swings Bauch war dick und hoch wie ein Berg. Die Bauern müssten eigentlich beim Hüpfen heruntergefallen sein.
»Warum sind Sie Fakir geworden?«, fragte Kerstin. Mister Swing betrachtete immer noch mein Schwert. Dann sah er Kerstin an. »Was hast du gefragt?«
»Warum Sie Fakir geworden sind?«, fragte Kerstin.
»Das weiß ich tatsächlich selber nicht«, antwortete er nach einer Weile. »Ich fand es vermutlich auffegend. Es war … ich hab schon lange nicht mehr daran gedacht. Ich bin schon so lange Fakir.«
Jetzt sah er mich an. »Warum bist du Samurai geworden?«
»Weil ich ruhig werden wollte«, antwortete ich.
»Ruhig? Warum wolltest du ruhig werden?«
»Ich konnte nicht ruhig sein. Früher war ich nie ruhig.«
»Ach so … ja, das klingt einleuchtend. Ruhe ist immer gut.«
Er hatte mein Schwert nicht berührt. Er respektierte meinen Willen. Er war auch ein Mann des Schwertes. Und er war wie ein Wellenmann, ein Ronin. Wellenmänner waren Samurais, die nicht mehr bei ihrem Herrn angestellt waren und auf der Suche nach einem Dienst bei einem anderen durchs Land zogen. Aber es gab keinen Platz für sie.
Ich war auch ein Wellenmann. Kerstin war ein Wellenmann.
»Wohnt ihr in der Stadt?«, fragte Mister Swing.
Kerstin und ich schauten einander an.
»Was macht ihr eigentlich hier?«, fragte Mister Swing weiter. Aber seine Stimme klang nicht misstrauisch wie Eva-Karins Stimme.
»Wir wollen ein paar Freunde besuchen«, sagte ich.
»Müsst ihr nicht in die Schule? Sind eure Freunde nicht in der Schule?«
»Die Schule ist bald aus«, sagte ich.
»Schule ist wichtig«, sagte Mister Swing. »Man muss zur Schule gehen.«
»Auf was für eine Schule sind Sie gegangen?«, fragte ich.
»Äh … im Beduinenlager gab es keine Schule. Nicht so eine Schule. Man brachte sich selbst Rechnen und so was bei.« Er schaute zum Himmel hinauf. »Ich habe abends die Sterne gezählt. Das war die beste Schule. Man kann ewig zählen. Ich zähle immer noch jede Nacht neue Sterne. Es gibt mehr Sterne, als ein Mensch in seinem ganzen Leben zählen kann.«
Er schaute immer noch in den Himmel, der immer noch blau und wolkenlos war, und es gab nur einen Stern zu sehen, die Sonne. Plötzlich fragte er: »Warum seid ihr jetzt nicht in der Schule?«
»Wir sind abgehauen«, sagte ich.
»Aha, abgehauen. Von zu Hause?«
»Wir sind vor dem Jugendamt geflohen. Die wollten uns zu Pflegeeltern oder in ein Kinderheim schicken.«
»Und warum wollte euch das Jugendamt wegschicken?« Er hatte die Hand um eins seiner Schwertgriffe geschlossen. Es sah fast aus, als würde er darüber nachdenken, was er damit anstellen sollte, wenn jemand vom Jugendamt kam. Aber hierher würden die nicht kommen. Ich hatte keine Kinder auf dem Platz gesehen, Kinder würden erst kommen, wenn der Jahrmarkt geöffnet hatte.
»Unsere Mütter sind krank«, sagte ich. »Sie können sich nicht um uns kümmern.«
Kerstin sah mich an, sagte aber nichts. »Und eure Väter?«, fragte Mister Swing. »Vater ist tot«, antwortete ich.
Mister Swing nickte. Er schaute zum Himmel hinauf. Zwei Flugzeuge trafen sich dort oben, sie flogen so hoch, dass man sie gerade noch sehen konnte, höher als zehntausend Meter. Die langen weißen Kondensstreifen der Jets zeichneten ein Kreuz über den Himmel.
»Und dein Vater?« Nach einer Weile sah Mister Swing Kerstin an.
»Er ist verschwunden«, sagte sie.
»Verschwunden? Wie verschwunden?«
»Er ist… abgehauen.«
»Abgehauen? Hat seine Familie einfach im Stich gelassen? Was für ein Schwein.«
»Es ist schon mehrere Jahre her«, sagte Kerstin.
»Was für ein Schwein«, wiederholte Mister Swing und strich mit der Hand an der Schwertklinge entlang. »Typen gibt’s.«
»Und wo sind Ihre Eltern?«, fragte ich.
Mister Swing legte den Kopf in den Nacken.
»Da oben«, sagte er. »Sie sind jetzt ein Teil der Sterne.« Er schaute uns wieder an. »Ich weiß nicht, ob ich sie schon zu den anderen gezählt habe, hoffentlich nicht. Ich möchte sie ja behalten.«
»Wird man ein Stern, wenn man stirbt?«, fragte Kerstin. »Ich glaube ja«, antwortete Mister Swing. »Deswegen gibt es so viele.« Er sah plötzlich traurig aus. »Haben Sie Geschwister?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf.
»Haben Sie eine Frau?«, fragte Kerstin.
»Nicht mehr«,
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