Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow
begann sich in seiner Seele zu regen.
»Ich zeige meine Kraft nicht nach außen!«, antwortete Tel scharf.
»Das ist gut«, stimmte Andrzej ihr zu. »Aber mir kannst du sie zeigen. Du sollst sie mir sogar zeigen.«
In seiner Stimme klang Spott. Er machte sich lustig über Tel. Dieser gebeugte, kahlköpfige, die Augen kurzsichtig zusammenkneifende Magier versprach sich nichts von dem dummen, dreisten Mädchen. Er wahrte nur die Form.
Tel machte eine Geste mit der Hand. Viktor erhaschte einen Blick auf ihre Finger, die sich in einer komplizierten Bewegung verschränkten; dann sah es so aus, als ob Staub aus ihrer Faust aufstiege und augenblicklich die ganze Gestalt des Mädchens einhüllte.
Die Wand gegenüber von Tel begann zu erzittern und wurde von einer mächtigen Welle erfasst. Die Steine blähten sich auf, trockener Kalk rieselte herab, und die Gobelins rutschten zu Boden. Ein großer dreieckiger Schild löste sich von der Wand und fiel mit dumpfem Knall auf den Boden.
Herr Andrzej sprang auf.
Die Welle legte sich. Die Steine bebten noch, und für einen Augenblick kam es Viktor so vor, als würden in der Wand die undeutlichen Züge eines ungeheuerlichen, eckigen Körpers sichtbar … Aber dann ließ Tel kraftlos die Hand sinken, und das Spektakel war vorbei.
Nur das glucksende Geräusch auslaufenden Weins aus einer umgestoßenen Flasche war zu vernehmen.
Der Magier der Erde, dessen glühende Augen den herumfliegenden Staub in Windeseile vertrieben hatten, starrte Tel durchdringend an.
»Mindestens zweiter Rang«, flüsterte er. »Mädchen … wer ist dein Lehrer?«
»Niemand!«
»Du hast versucht, den Geist des Steins zu rufen! Weißt du das?«
Tel schlug die Augen nieder und blickte zu Boden. »Ich … ich nenne ihn anders … bei mir heißt er nur Steinchen … Einmal, als ich noch klein war, da war mir langweilig, und ich war ganz allein zu Hause … alle waren weg, alle, sogar Vite-e-k …«
Sie sah aus, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen. Der Kontrast zu ihrer früheren Dreistigkeit war verblüffend; aber glücklicherweise standen alle noch unter dem Eindruck des Erdbebens, das sich hier eben beinahe ereignet hatte.
»Ich habe mir vorgestellt, dass ein Mensch in der Wand wohnt, aus Stein … und dann fing ich an, mit ihm zu sprechen …«
Andrzej strahlte, hob die Hand in die Höhe und sagte: »An diesen Moment werdet ihr noch denken, ihr alle! Vor euch steht eine große zukünftige Zauberin des Clans der Erde! Und sie ist meine Entdeckung!«
»Sie ist meine Beute«, äffte Viktor den Erdmagier nach und musste unwillkürlich an den Tiger Shir Khan denken. Aber der Magier war hoch zufrieden und nahm nichts und niemanden um sich herum wahr.
»Verbeugt euch!«
Die Menge der Gäste beugte sich einträchtig über den Tisch. Viktor bemerkte, dass es einem großen Bärtigen von imposanter Statur sogar in dieser Position noch gelang, mit dem Mund eine Scheibe Schinken zu erwischen und runterzuschlucken. Ganz von selbst stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht.
Und das bemerkte der Magier. »Wer bist du?«
»Ich bin Tels Bruder. Ich heiße Viktor.«
»Gut. Du kannst nach Hause zurückkehren.«
Viktor schüttelte den Kopf. »Nein. Ich muss erst sicher sein, dass meine Schwester in zuverlässigen Händen ist.«
Der Magier warf wütend den Kopf nach hinten. »Was? Glaubst du mir nicht? Ich selbst werde ihr Lehrer sein!«
»Unsere Eltern haben mir aufgetragen«, erwiderte Viktor mit erhobener Stimme, »sie frühestens nach einem halben Jahr zurückzulassen!«
Tel hatte seine Hand gefasst und brachte mit ihrer ganzen Haltung zum Ausdruck, dass sie bereit war, auf ihren Bruder zu hören.
Andrzejs Gesicht hatte sich verfinstert, aber seine Stimme war ruhig. »Sie haben keine Ahnung, deine Eltern, junger Mann. Kein Magier würde einem anderen Magier Übles wollen!«
»Woher soll ich das wissen?« Viktor zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Erfahrung mit euch, mit den Magiern …«
Der Fürst, der alles neugierig mit angesehen hatte, lächelte und sagte: »Hervorragend! Sieh nur, Andrzej, was für hohe moralische Grundsätze in meinem Land herrschen! Woher kommst du, Jüngling?«
Im Vergleich zum Fürsten konnte Viktor durchaus als Jüngling durchgehen.
»Aus Smirnowka«, platzte Viktor heraus. Wie er auf den Namen gekommen war, wusste er selbst nicht; entweder weil das russische Wort für »artig« darin steckte, oder von der allgemein bekannten Wodka-Sorte.
Der Fürst
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