Drachenritter 01 - Die Nacht der Drachen
wirklich und ganz sicher nichts übermäßig wichtig war.
Er bewegte sich langsam den Pfad hinauf und blieb stehen, um den Wegweiser vor dem Haus zu lesen. Die Tafel selbst war ein schlichtes, weißgestrichenes Brett mit schwarzer Beschriftung. Der Pfosten, auf dem sie befestigt war, erhob sich aus wuchernden Astern, Zinnien, Rosen und Maiglöckchen, die alle in völliger Mißachtung ihrer normalen Blütezeiten blühten. Auf dem Brett stand in schwarzen, eckigen Druckbuchstaben der Name S. Carolinus. Jim ging weiter zur Vordertür, die grün war; davor befand sich eine einzige, rotgestrichene Steinstufe.
Er klopfte.
Keine Antwort.
Trotz der beruhigenden Wirkung der Quelle und der Blumen sank Jim der Mut. Das wäre wirklich Pech für ihn und Angie, zu S. Carolinus' Wohnsitz gerade dann zu kommen, wenn S. Carolinus nicht zu Hause war.
Er klopfte wieder – diesmal stärker.
Im Hause wurden hastige Schritte hörbar. Die Tür wurde nach innen aufgerissen. Ein schmalgesichtiger alter Mann in einem roten Gewand, schwarzem Käppchen und mit einem dünnen, ziemlich schmuddelig aussehenden weißen Bart steckte den Kopf heraus und starrte Jim böse an.
»Tut mir leid, keine Sprechstunde für Drachen heute!« fuhr er ihn an. »Komm nächsten Dienstag wieder.«
Er zog den Kopf zurück und knallte die Tür zu.
Einen Augenblick lang starrte Jim nur verblüfft. Dann begann er allmählich zu verstehen.
»He!« rief er und hämmerte mit Drachengewalt gegen die Tür.
Noch einmal wurde sie wütend aufgerissen.
»Drache!« sagte der Zauberer drohend. »Wärst du vielleicht gerne ein Käfer?«
»Ihr müßt mir zuhören«, sagte Jim.
»Ich sagte doch«, erklärte Carolinus, »daß ich heute keine Sprechstunde für Drachen habe. Außerdem habe ich Magenschmerzen. Verstehst du? Ich-habe-heute-keine-Sprechstunde-für-Drachen!«
»Aber ich bin kein Drache.«
Carolinus starrte Jim lange an, dann riß er mit beiden Händen in einer Geste der Verzweiflung seinen Bart hoch, erwischte einen Teil davon mit den Zähnen, als er wieder herunterfiel, und begann wild darauf herumzukauen.
»Und woher«, wollte er wissen, »hat ein Drache auf einmal genug Hirn, um soviel Phantasie zu entwickeln, daß er die Illusion hegen kann, er sei kein Drache? Antwortet mir, o ihr Mächte!«
»Die Information ist psychisch, wenn auch nicht physiologisch zutreffend«, antwortete eine tiefe Baß-Stimme neben ihnen, etwa eineinhalb Meter über der Erde aus dem Nichts – worauf Jim, der die Frage für rhetorisch gehalten hatte, zusammenfuhr.
»Ist das eine Tatsache?« sagte Carolinus und beäugte Jim mit erwachtem Interesse. Er spuckte die ein oder zwei Haare aus, die er immer noch im Mund hatte, trat zurück und öffnete die Tür. »Komm herein, du Anomalie – oder weißt du einen besseren Namen für dich?«
Jim quetschte sich durch die Tür und fand sich in einem einzigen, unordentlichen Raum, der offensichtlich den ganzen ersten Stock des Hauses einnahm. Er enthielt Möbelstücke und seltsame Einzelteile einer alchimistischen Ausrüstung, die wahllos dazwischen verteilt waren. S. Carolinus schloß die Tür hinter sich und ging um Jim herum, um ihn anzusehen. Jim setzte sich auf seine Hinterbeine und zog den Kopf ein, um nicht an die Decke zu stoßen.
»Nun, mein richtiger Name ist James – Jim Eckert«, sagte er. »Aber ich scheine im Körper eines Drachen namens Gorbash zu sein.«
»Und das«, sagte S. Carolinus, wobei er zusammenzuckte und seinen Magen massierte, »stört Euch, nehme ich an.« Er schloß die Augen und fügte schwach hinzu: »Wißt Ihr irgend etwas, das gegen unaufhörliche Magenschmerzen hilft? Natürlich nicht. Weiter.«
»Ich fürchte, nein. Nun, die Sache ist so… Wartet einen Moment. Sprecht Ihr die Drachensprache oder spreche ich Eure Sprache, welche auch immer?«
»Wenn es eine ›Drachensprache‹ gibt«, sagte S. Carolinus verdrießlich, »dann sprecht Ihr sie natürlich. Wenn Ihr sie sprechen würdet, würde ich sie mit Euch sprechen – das ist doch klar. In Wirklichkeit unterhalten wir uns einfach. Würdet Ihr bitte bei der Sache bleiben? Erzählt weiter über Euch selbst.«
»Aber, ich meine, sprechen hier Drachen und Menschen – ich meine George – die gleiche Sprache? Ich meine, anscheinend spreche ich Eure Sprache, nicht meine eigene…«
»Warum nicht?« sagte Carolinus und schloß die Augen. »Im Reich der Mächte ist nur eine Sprache möglich – per definitionem. Und wenn Ihr jetzt nicht innerhalb
Weitere Kostenlose Bücher