Drachenritter 01 - Die Nacht der Drachen
Junge«, sagte Smrgol streng. »Aber ein erfahrener Drache weiß, daß er, um in guter Kampfkondition zu bleiben, Schlaf und Essen braucht…«
»Essen?« fragte Jim plötzlich ganz interessiert. »Hast du etwas zu essen?«
»Nein«, erwiderte Smrgol. »Ein Grund mehr, warum du fünf oder sechs Stunden anständigen Schlaf einplanen solltest.«
»Ich könnte jetzt nicht schlafen.«
»Könntest nicht schlafen…? Ein Drache, der nicht schlafen kann? Genug mit diesen verrückten Geschichten, Gorbash! Jeder Drache, besonders einer aus unserer Familie, kann essen, trinken oder schlafen, wann immer er will.«
»Warum brechen wir denn nicht sofort auf?« fragte Jim.
»In der Nacht fliegen?«
»Der Mond scheint hell«, sagte Jim. »Du hast mich doch gerade eben herfliegen sehen.«
»Und das war mehr als tollkühn. Junge Kerle wie du riskieren immer gerne etwas. Sie kommen auch neunhundertneunundneunzig von tausend Malen davon. Dann, eines Tages, wendet sich das Glück, und dann wären sie froh, wenn sie auf die anderen gehört hätten. Aber dann ist es zu spät. Und was ist, wenn du in der Luft bist, und der Himmel bewölkt sich, ehe du es begreifst, und plötzlich merkst du, daß du den Boden nicht mehr sehen kannst?«
Jim öffnete das Maul, um dem älteren Drachen zu erzählen, was er über das Fliegen in völliger Dunkelheit und bei Regen herausgefunden hatte, dann entschloß er sich, es lieber sein zu lassen.
»Also komm«, sagte Smrgol barsch. »Schluß mit diesem Unsinn! Wir brauchen beide Schlaf.«
Etwas an Smrgols Beharrlichkeit berührte die neuerdings sehr empfindlichen, gefühlsmäßigen Wahrnehmungen Jims. Er sah Smrgol so genau an, wie er konnte, ohne sich den Anschein zu geben, daß er den älteren Drachen offen studierte. Er sah, daß an dem mächtigen Körper irgend etwas anders war, was sich schwer definieren ließ, aber was trotzdem unleugbar anders war als das letzte Mal, als er Gorbashs Großonkel gesehen hatte. Plötzlich begriff er, was es war.
Smrgols linkes Augenlid war halb geschlossen. Es hing über das lange, schmale Auge. Auch Smrgols linker Flügel hing herab, leicht, aber sichtbar; und wenn der alte Drache auf allen vieren stand, schien sein Gewicht hauptsächlich auf den beiden rechten Beinen zu ruhen. Jim hatte diese physischen Anzeichen früher schon einmal gesehen – wenn auch nicht bei einem Drachen. Sein Großvater hatte, nach seinem ersten Schlaganfall vor drei Jahren, ähnliche Symptome einer körperlichen Entstellung der einen Körperhälfte gezeigt.
Aber Drachen bekamen doch… Jim dachte den Gedanken nicht zu Ende. Offensichtlich war es doch möglich, wenn sie alt genug oder sonst irgendwie anfällig waren. Auf jeden Fall war es unwichtig, ob es nun möglich war oder nicht. Von Bedeutung war nur, daß Smrgol jetzt verkrüppelt war; und ob er nun genau verstand, was mit ihm passiert war, oder nicht, er war im Augenblick nicht in der Lage zu fliegen.
»In Ordnung«, sagte Jim. »Ich denke, ich kann noch bis zum Morgen warten.«
Smrgol würde es am Morgen nicht besser gehen, aber Jim hatte jetzt ein paar Stunden Zeit, sich auszudenken, wie er sich in dieser Situation verhalten sollte. Er steckte den Kopf unter den Flügel und gab vor zu schlafen. Seine Ohren fingen, wie er glaubte, einen Seufzer der Erleichterung auf, und als er ein paar Minuten später unter seinem Flügel hervorspähte, hatte auch Smrgol den Kopf daruntergesteckt und begann gerade leicht zu schnarchen.
Jim schlief ein, während er noch überlegte, was zu tun sei, aber als er dann aufwachte, hatte er die Antwort schon im Geiste parat.
»Smrgol«, sagte er, als sie beide in der Dämmerung des neuen Tages erwacht waren, »ich habe nachgedacht.«
»Braver Junge!«
»Äh – ja«, sagte Jim. »Und mir ist folgendes eingefallen. Ich sollte wahrscheinlich so schnell ich kann zum Verhaßten Turm fliegen. Wenn Carolinus recht hat und Sir Hugh und seine Männer wirklich dorthin unterwegs sind, dann sammeln wahrscheinlich die Dunklen Mächte im Augenblick all ihre Streitkräfte. Wer weiß, was sie noch alles aus der Tasche ziehen? Tausende von Sandmerkern – oder sonst etwas! Warum gehst du nicht inzwischen heimlich zu Fuß zurück zu den Drachenhöhlen und planst, ohne daß jemand davon weiß, die Mobilisierung der anderen Drachen, rufst sie alle zusammen.«
Smrgol hüstelte verlegen.
»Mein Junge«, sagte er. »Ich wollte schon mit dir darüber sprechen. Also, die Sache ist die … nun, die anderen wollen
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