Drachenschwester 01 - Thubans Vermächtnis
Wie ist es gelaufen?«
Sie fuhr herum. Vor ihr stand ein junger Mann, dessen Schönheit nicht weniger auffallend war wie ihre eigene. Er war elegant gekleidet, mit einer hellen Hose, einem maßgeschneiderten braunen Sakko und einem Kaschmirschal, den er lässig um den Hals geschwungen hatte. Jetzt fuhr er sich mit einer selbstgefällig affektierten Geste durch sein hellbraunes gewelltes Haar, während er Nida mit einem gewitzten Lächeln ansah.
» Gut, es hat alles geklappt«, antwortete sie, während sie sich wieder in die Richtung umdrehte, in die Mattia gelaufen war.
» Was glaubst du? Wann können wir mit ihm rechnen?«
» Wie ich diese Knirpse kenne, rennt der sofort nach Hause, stellt sich vor den Spiegel und probiert die Spinne aus. Und dann haben wir ihn.«
» Mir wäre es lieber gewesen, wir hätten ihn sofort mitnehmen können«, erwiderte der junge Mann mit missmutiger Miene.
Nidas Gesicht wurde ernst. » Nur die Ruhe, Ratatoskr. Er sagt, dass die Auserwählten noch nicht erwacht sind. Das heißt, wir haben genug Zeit. Vielleicht sind wir sogar noch zu früh dran.«
» Mag sein, aber je schneller wir die Sache hinter uns bringen, desto beruhigter bin ich.«
» Keine Sorge. Er hat alles unter Kontrolle.«
Nida schaute noch einmal zu der Treppe, die Mattia vorhin hinaufgestürmt war. Sie war sich sicher, dass sie ihn bald wiedersehen würde.
3
Prüfungsfragen
Bestimmt zum hundertsten Mal strich sich Sofia den Pulli glatt. Bis zu diesem Tag hatte sie sich eigentlich noch nie für ihre Kleidung geschämt. Die Sachen, die sie trug, stammten alle aus zweiter Hand, waren also von anderen aussortiert worden. Doch die zu weiten Jeans und schlabberigen Pullover, die sie den Winter über am Leibe hatte, passten, wie sie glaubte, gut zu ihr und der unbedeutenden Rolle, die sie in der Welt spielte. Sie war eben nur eine graue Maus, ein winziges, eigentlich nutzloses Rädchen im großen Getriebe. Doch nicht an diesem Morgen. Plötzlich war es ihr unglaublich wichtig, aufzufallen und hübsch und sympathisch auszusehen. Sie musste einfach einen guten Eindruck auf diesen Mann machen, musste ihn für sich einnehmen. Es war wahrscheinlich ihre einzige Chance, ihrem Leben eine andere Richtung zu geben und ein für alle Mal dieses Waisenhaus zu verlassen.
Sie drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Tja, der grüne Pulli passte ganz gut zu ihrer Augenfarbe. Vielleicht war es lächerlich, auf solche Kleinigkeiten zu achten, aber dieser geheimnisvolle Professor würde möglicherweise Wert darauf legen. Als letzte Verschönerungsmaßnahme band sie sich die Haare zusammen. Nur so konnte sie den Kürbiseindruck abmildern, den ihre wuschelige Mähne hervorrief. Wieder drehte sie den Kopf nach allen Seiten und betrachtete ihr Spiegelbild.
» Jetzt komm, du bist schön genug.«
Sofia fuhr herum. Giovanna stand hinter ihr.
» Meinst du?«, seufzte sie. Mit dieser Frau hatte sie nie mehr verbunden als das normale Verhältnis eines Waisenkindes zu einer Hausangestellten. Doch plötzlich war Giovanna der einzige Mensch, dem sie sich anvertrauen konnte.
Diese lächelte sie freundlich an. » Aber sicher! Du bist wirklich ein hübsches, nettes Mädchen. Und der Pulli steht dir wunderbar.«
Sofia fühlte sich bestärkt, auch wenn das Kompliment wahrscheinlich ein wenig geflunkert war. Aber brauchte nicht jeder Mensch hin und wieder mal eine kleine Lüge, um sich besser zu fühlen?
Giovanna legte ihr die Hände auf die Schultern. » Weißt du, manchmal habe ich gedacht, dass du vielleicht meinen Weg gehen und nie aus diesem Waisenhaus herauskommen würdest. Vor vielen Jahren war ich dir nämlich ziemlich ähnlich.«
Ihre Augen begannen zu glänzen und Sofia fühlte sich verlegen und gleichzeitig geschmeichelt durch dieses unerwartete Geständnis. Diese Gedanken waren ihr auch so manches Mal durch den Kopf gegangen.
» Für mich hat sich nie jemand interessiert. Aber du hast heute deine große Chance. Also gib dir Mühe und nutze sie.«
Giovanna zog ihr den Pulli an den Schultern zurecht und strich ein paar Falten glatt. Und Sofia überlegte, dass wohl die meisten Kinder solche Gesten von ihrer Mutter kannten, und wie es sich anfühlen musste, einen Menschen zu haben, der einem jeden Morgen mit ein paar Handgriffen die Kleider richtete.
» Fertig?«
Sie nickte schwach.
Vor Schwester Prudenzias Tür spürte sie ihr Herz lauter schlagen. Mit dem Überschreiten dieser Schwelle würde sich alles ändern, das wusste
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