Drachenschwester 01 - Thubans Vermächtnis
musstest«, murmelte sie.
Giovanna löste sich von ihr. Ihre Augen waren gerötet und auch die von Sofia glänzten. » Jetzt reicht’s aber. Wer wird denn heute weinen? Das ist doch ein Freudentag!«
Sofia musste lachen, und mit diesem Lachen brach die ganze Freude hervor, die sie bis zu diesem Augenblick nicht hatte zeigen können. Endlich war auch für sie der Moment gekommen. Sie dachte an einen Satz, den sie in einem Buch gelesen hatte: Die schönsten Dinge erlebt man, wenn man es am wenigsten erwartet. Genau so war es.
In der Nacht machte Sofia kein Auge zu. Zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Im Dunkeln lauschte sie auf die Atemzüge der anderen, während sie sich fragte, ob sie ihr fehlen würden. Ab morgen würde sie mit niemandem mehr etwas teilen müssen, noch nicht einmal das Bad. Eine Dusche und ein Waschbecken ganz für sie allein erwarteten sie, und vielleicht sogar, wenn sie Glück hatte, eine eigene Badewanne. Sie würde ungestört von anderen frühstücken und wahrscheinlich auch nicht mehr in einer Klasse mit anderen zusammensitzen müssen, sondern möglicherweise, so wie sie es in manchen Romanen gelesen hatte, einen Hauslehrer bekommen.
So viel Neues, an das sie sich hoffentlich schnell gewöhnen würde. Aber was, wenn es tatsächlich ein Reinfall würde, wie ihr manche aus dem Heim vorausgesagt hatten? Das war sicher nicht ausgeschlossen. Denn ein völlig fremder Mann war aufgetaucht, der sie einfach mitnahm und sogar zugegeben hatte, dass sie für ihn arbeiten sollte.
Je länger sie darüber nachdachte, desto stärker quälte sie dieser Gedanke. Sie stand auf, um ein wenig herumzulaufen, den Kopf freizubekommen, und auch um der Traurigkeit zu entfliehen, die sie überkommen hatte. Eiskalt fühlten sich die Fliesen unter ihren nackten Fußsohlen an und sie erschauderte. Dennoch schlich sie leise weiter bis zum Flur, der nur vom blassen Mondlicht, das durch die Fenster einfiel, ein wenig erhellt wurde.
Seltsam, plötzlich kam ihr alles verändert, fast unbekannt vor. Das Fliesenmuster in dem Gang, der zum Arbeitszimmer Schwester Prudenzias führte, die Farbe des Linoleums im Speisesaal, das Weiß der Kacheln in den Waschräumen, ja selbst die Wasserflecken an der Decke. So lange lebte sie nun schon hier, dass sie all diese Details nicht wahrgenommen hatte, obwohl sie tagtäglich von ihnen umgeben war. Sie waren die unwandelbare Kulisse ihres Alltags, ein Bühnenbild, vor dem sich ihr Leben abgespielt hatte, monoton, aber friedlich.
Erst jetzt nahm sie all diese Einzelheiten wieder wahr und spürte ganz deutlich, dass sie zu ihr gehörten. Jetzt da sie sie zurücklassen würde.
Sie streifte weiter durch das Gebäude, strich mit den Fingerspitzen über die Wände, verabschiedete sich von allen noch so kleinen Dingen, die ihr Leben bis zu diesem Tag ausgemacht hatten. Und sie nahm sich fest vor, diesen Ort niemals zu vergessen: Im Guten wie im Schlechten war er schließlich lange Zeit ihr Zuhause gewesen und sie musste sich nicht dafür schämen.
Es war ein heller, freundlicher Tag. Die Platane im Garten schimmerte golden, die Sonnenstrahlen durchbohrten scheinbar das Laub. Die Luft war kalt und Sofia kam sich mit diesem alten Koffer in der Hand verdammt plump vor. Mit jeder Minute, die verstrich, wuchs ihre Befürchtung, der Professor würde sie versetzen. Oder sie stellte sich vor, dass er auf der Stelle kehrtmachen würde, wenn er sah, was für eine unbeholfene komische Figur sie abgab, und sich nie wieder blicken ließe.
Aber Professor Schlafen kam. Er reichte Schwester Prudenzia die Hand und wandte sich dann mit seinem aufmunternden Lächeln an Sofia, die schon begann, ihn richtig zu mögen.
» Gib mir den Koffer, heute bin ich dein Kavalier«, erklärte er, indem er ihr das Gepäckstück abnahm. » Und jetzt kannst du dich noch von allen verabschieden.«
Verlegen drehte sich Sofia um. Da standen sie hinter ihr, Schwester Prudenzia, Giovanna und selbstverständlich die ganze Waisenschar, und schauten sie ungläubig an. Den Kleineren sah man die Enttäuschung an. Noch hatten sie die hinterlistige Kunst, Missgunst zu verbergen, nicht erlernt.
Sie überreichten ihr ein Bild, das alle unterschrieben hatten, ein Abschiedsgeschenk, das sich zweifellos eine der Nonnen ausgedacht hatte. Sofia konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand aus dem Waisenhaus sie wirklich vermissen würde.
» Tja, tschüs dann«, sagte sie unsicher. Ihre Mitschüler verabschiedeten sich mit einem
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