Drachenschwester 01 - Thubans Vermächtnis
Schlafen vergötterte Lidja und bemühte sich, sie so viel wie möglich im Haus zu haben. Die Artistin war genau der Typ Mädchen, den er sich als Tochter gewünscht hätte. Ganz anders als sie selbst: Mit ihr hatte er sich nur abgegeben, weil es erforderlich war, Lidja aber hatte er sich ausgesucht.
Sofia wurde immer trauriger. Wenn sie am Fenster stand und auf die kahlen Bäume schaute, bekam sie fast Lust, aufs Dach zu klettern, um sich diesem trübseligen Anblick ganz hinzugeben.
Dann, eines Abends, brach der Professor das Schweigen: » Ich habe nachgedacht, Sofia, und ich glaube, jetzt verstehe ich dich. Verzeih mir, dass ich so lange gebraucht habe, um dahinterzukommen.«
Seine Worte klangen sehr ernst, bitterernst, und traurig. Aber Sofia blickte nicht auf.
» Du bist noch sehr jung, und ich habe dir eine Verantwortung aufgebürdet, die noch zu schwer für dich ist. Außerdem solltest du frei entscheiden können, ob du überhaupt mitmachen willst oder nicht. Lung, dein Vorfahre, hatte eine Wahl, und die steht dir auch zu.«
Sofia verstand nicht recht, worauf der Professor hinauswollte.
» Es ist offensichtlich, dass du diese Bürde ablehnst. Und das muss ich hinnehmen. Du brauchst also keine Angst zu haben, dass ich noch einmal Dinge von dir verlange, zu denen du nicht bereit bist. Es ist dein gutes Recht, Thuban zurückzuweisen und ein normales Leben zu führen.«
Sofia hatte das Gefühl, das lange Schweigen beenden zu müssen, das seinen Worten folgte, aber ihr fiel nichts ein, was sie hätte sagen können. Mit dieser Wendung hatte sie überhaupt nicht gerechnet und sich ein klärendes Gespräch mit dem Professor immer völlig anders vorgestellt.
» Du bist nicht die einzige Drakonianerin, und selbst wenn du es wärest … nun, immerhin bin ich ein Hüter und dadurch auch nicht ganz hilflos. Doch egal wie, jedenfalls gibt es da jemanden, der dazu stehen will, dass ein Drache in ihm wohnt. Das heißt, du kannst frei entscheiden und bist zu nichts gezwungen. Diese andere Person springt für dich ein.«
Sofia konnte sich nicht länger beherrschen. Sie fuhr hoch. » Sie sprechen von Lidja, nicht wahr?«
Professor Schlafen nickte nur.
Jetzt passte alles zusammen. Deshalb war dem Professor so sehr daran gelegen, dass sie Freundschaft schlossen. Daher die ganzen Anspielungen und die vielen Besuche in den letzten Tagen.
» Das heißt also … ich soll gehen …«
Kann, » kann« wäre das richtige Verb gewesen. Doch aus irgendeinem Grund hatte sie es nicht benutzt.
» Nein!«, antwortete der Professor, ohne auch nur einen Augenblick zu überlegen.
Sein entschlossener Ton löste die Spannung, die im Raum gelegen hatte.
» Ich möchte nicht, dass du uns verlässt. Zudem wärest du außerhalb dieses Hauses in Gefahr, in der derzeitigen Situation jedenfalls.« Er hielt kurz inne. » Doch wenn du von hier fortmöchtest, weil du das Gefühl hast, dass dies kein Zuhause für dich ist, werden wir schon einen Weg finden. Du bist frei, Sofia, und kannst dich selbst entscheiden, wie es dir gefällt.«
Die Versuchung war groß, ihm das zu sagen, was sie sich vorgenommen hatte. Aber sie tat es nicht. Und das ärgerte sie. Unzählige Male hatte sie sich diese Szene vorgestellt, wie sie ihren Koffer nahm und wortlos durch die Haustür verschwand. Das hätte sie tun sollen.
» Ich überleg’s mir«, sagte sie stattdessen.
Der Professor schien leicht zu erblassen. » Wie du möchtest. Ich kann dir nur noch einmal sagen, wie leid es mir tut, dass ich mich so falsch verhalten habe.«
Sofia zuckte zusammen. Plötzlich taten ihr diese Worte fürchterlich weh. Sie erinnerte sich, wie sie sich zum ersten Mal gesehen hatten, und Wehmut überkam sie.
Der Professor machte Anstalten, den Raum zu verlassen, blieb jedoch auf der Schwelle noch einmal stehen. Sofia betrachtete seinen gebeugten Rücken. » Ich wünschte mir nur, dass du erkennst, wie sehr ich dich mag. Deine Gegenwart hier im Haus ist mir unverzichtbar geworden. Deswegen bitte ich dich: Bleib!«
Dann ging er.
Am Seeufer war es feucht und kalt. Nur fünf Minuten. So hatte sie es mit Thomas vereinbart. Der Diener stand hinter ihr und schützte sie mit einem Schirm vor dem eiskalten Nieselregen, der ganz sanft die silberne Wasseroberfläche kräuselte. Am liebsten hätte Sofia sich nass regnen lassen. Das wäre jetzt genau das Richtige gewesen. Im Grunde ihres Herzens sehnte sie sich danach, krank zu werden. Sie hätte es nicht besser verdient, und dann wäre
Weitere Kostenlose Bücher