Drachenschwester 01 - Thubans Vermächtnis
vollständig die Sicht. Hinter ihrem schönen, ernsten Gesicht konnte Sofia nur ein wenig von dem bleigrauen Himmel erkennen, der am Horizont schwach vom rötlichen Schimmern des Sonnenuntergangs erhellt wurde. Krampfhaft suchte sie mit den Händen einen Halt, während sie sich gleichzeitig mühte, den Schwindel zu überstehen.
» Stell dich doch nicht so an. Du kannst nicht runterfallen. Ich fang dich auf.«
Sofia zog die Nase hoch. » Warum tust du mir das an? Warum kannst du nicht mal nett zu mir sein. Seit wir uns kennen, fällt dir nichts anderes ein, als mich zu demütigen!«
Eine heftige Ohrfeige traf sie mitten im Gesicht und ließ ihr den Atem stocken. Fassungslos starrte sie Lidja an. Deren Augen funkelten. Sie war richtig wütend. » Und was ist mir dir? Warum machst du das? Warum suhlst du dich in deinem Selbstmitleid und ziehst auch noch den Professor mit hinein?«
Sofia verstand die Welt nicht mehr. Hatten denn alle den Verstand verloren?
» Du bist eine furchtbare Memme. Du hast Schiss. Mehr nicht. Panik kriegst du, wenn du hier hinaufklettern sollst. Aber du machst dir ja schon in die Hosen, wenn du mit mir reden oder die Zuneigung des Professors erwidern sollst … All das macht dir Angst.«
Sofia war überrascht und sauer. Sogar richtig zornig. Verflucht noch mal. Lidja hatte keine Ahnung. Woher wollte die wissen, wie sie sich fühlte? Wie es war, ständig übergangen zu werden und nur Beachtung zu finden, wenn man gehänselt wurde? Was wusste die schon von Ängsten, die einen lähmten und einem mehr und mehr die Luft zum Atmen nahmen?
» Du hast doch keinen blassen Schimmer«, murmelte sie.
» Da irrst du dich aber gewaltig. Ich weiß eine ganze Menge. Ich weiß zum Beispiel von deiner Ablehnung. Du hast doch Nein gesagt, oder? Du hast doch beschlossen, deine Pflicht nicht zu übernehmen.«
» Das ist nicht meine Pflicht«, antwortete Sofia schmollend. » Das haben mir andere aufgezwungen. Denn von diesem Drachen, diesem Thuban, spüre ich absolut nichts in mir. Wenn du mich fragst, gibt es den gar nicht. Aber selbst wenn, warum sollte er sich ausgerechnet den Körper von einer solchen Null wie mir aussuchen?«
» Immer wieder dieses billige Selbstmitleid!« Angewidert verzog Lidja das Gesicht. » Versteh doch, es gibt keinen Grund. Thuban hat dich ja nicht ausgewählt. Aber du stammst eben von seinem Freund Lung ab und darauf kommt es an. Mein Drache, Rastaban, hat mich auch nicht ausgesucht, aber durch meine Herkunft habe ich diese besondere Bestimmung erhalten. Und ich nehme mein Schicksal an. Aber Angst habe ich auch. Was glaubst du denn?«
» Du hast doch niemals Angst«, murmelte Sofia. » Wie sollte jemand wie du Angst haben? Du fliegst durch die Luft …«
» Jeder Mensch hat Angst«, fiel ihr Lidja ins Wort. » Glaubst du wirklich, außer dir seien alle perfekt? Ich kenne alle möglichen Ängste, und was mir der Professor erzählt hat, versetzt mich regelrecht in Panik. Ich weiß nicht, was da auf mich zukommt. Am liebsten würde ich davonrennen so wie du, einfach in meinen Zirkus zurückkehren und mein gewohntes Leben weiterführen. Aber das geht nicht. Mir wurde eine Gabe vermacht, eine furchterregende Gabe, ein Keim, der mir eingepflanzt wurde und der nun aufgeht und mir unheimliche Kräfte verleiht. Natürlich machen die mir Angst. Aber ich kann diese Kräfte nicht verleugnen, sondern muss versuchen, ihnen einen Sinn zu geben. Deshalb werde ich sie auch anwenden und das tun, wozu meine Vorfahren mich bestimmt haben.«
Das hörte sich so leicht an. Aber Sofia sagte sich, dass sie selbst diese Kräfte bestimmt nicht richtig einsetzen könnte. Bei ihr musste es sich um ein Versehen handeln. Sie war einfach nicht die Richtige.
» Ich brauche dich nicht, um das zu tun, was ich tun muss«, fuhr Lidja fort, » und ich habe auch nicht vor, dich zu überreden, mir zu helfen. Nein, es geht darum, dass du mich wütend machst. Furchtbar wütend. Weil du den Professor so hängen lässt. Der mag dich nämlich sehr. Du bringst Leben in seine einsamen Tage und für ihn bist du etwas Besonderes.«
Sofia schüttelte den Kopf. » Das verstehst du nicht. Du kannst mich nicht verstehen …«
» Nein, du verstehst dich selbst nicht. Wenn du lieber so weitermachen willst wie bisher und dich damit zufriedengibst, wie eine Maus in der Falle in deinem Waisenhaus zu versauern, kannst du das gerne tun. Aber ich will, dass du kapierst, dass du völlig in Ordnung bist und dass du selbst immer alles
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